25.9.2021 — 23.1.2022
Georges Braque mit Pfeife, um 1905/06
Er gilt als der stille, bedächtige Maler im turbulenten Künstlerviertel Montmarte im Paris des beginnenden 20. Jahrhunderts. Tatsächlich ist er der bahnbrechende Künstler der französischen Avantgarde.
In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg prägt der junge Georges Braque (1882–1963) mit seinem Freund Pablo Picasso acht Jahre lang die vielleicht revolutionärste Etappe in der Geschichte der modernen Malerei: den Kubismus, der eine neue Art der Darstellung der Welt bedeutete.
Die Ausstellung der Kunstsammlung zeigt Braques besonders spannendes und ereignisreiches Frühwerk, das er zwischen 1906 und 1914 entwickelte. Zu entdecken ist, wie der junge Maler in rasanter Abfolge und auf höchstem Niveau die stilistischen Mittel weiterentwickelt oder neu erfindet.
Fauvismus, Vorkubismus, analytischer Kubismus, papiers collés und synthetischer Kubismus folgen in einzigartiger Verdichtung aufeinander. Die Ausstellung zeigt dies mit rund 60 Meisterwerken aus internationalen Museen, Privatsammlungen und den Beständen der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen.
Georges Braque, Paysage a L’Estaque, octobre 1906
Das Erlebnis der Werke von Henri Matisse, André Derain und anderen im Pariser Herbstsalon von 1905 war ein Schlüsselerlebnis des 23-jährigen Braque. Die reinen, leuchtenden Farben in deren Bildern hatten nichts mehr mit den Erscheinungsfarben der Dinge im Licht und den illusionistischen Perspektiven zu tun, die die Gemälde der Malerinnen und Maler des Impressionismus zeigten. Hier kamen die neuen Erkenntnisse der Forschung zu den physikalischen Eigenschaften und über die Wahrnehmung der Farben zum Tragen. Die Maler, die von der Kritik als „fauves“ (wilde Tiere) bezeichnet wurden, ermutigten den jungen Braque, bereits im Sommer 1906 mit ihren Stilmitteln zu experimentieren. Bis zum Herbst 1907 malte Braque circa 70 fauvistische Gemälde, die die Ausdruckskraft der Farbe feiern und die Bildräume der vielen Landschaftsdarstellungen in farbige Flächenkompositionen überführten.
Georges Braque, Paysage de La Ciotat, 1907
Susanne Meyer-Büser
Kuratorin der Ausstellung über das Werk
„Die fauvistische Malerei beeindruckte mich wegen des Neuen, das sie bot, und das kam mir zupass … Es war eine ausgesprochen enthusiastische Malerei, die meinem Alter entsprach, ich war dreiundzwanzig… Da ich die Romantik nicht mochte, gefiel mir diese physische Malerei.“
Georges Braque über den Fauvismus
Ausschnitt aus: Wilbur Wright und seine Flugmaschine, ca. 1909
Im Sommer 1907 besuchte Braque die große Retrospektive des im Jahr zuvor verstorbenen Malers Paul Cézanne (1839-1906) im Salon d’Automne in Paris. Cézannes Gemälde beeindruckten ihn mit der Annäherung der Naturformen an geometrische Formen und deren Anordnung in flachen, reliefartigen Bildräumen.
Unter dem Eindruck dieser Werke unternimmt Braque im Herbst 1907 seine nächste Reise in den Süden Frankreichs. Im Fischerdorf L’Estaque nehmen die Elemente seiner Landschaftsbilder zunehmend geometrische Grundformen an. Aus ihnen baut er seine Bildstrukturen, die sich keiner perspektivischen Konstruktion unterordnen. Zunehmend bestimmen Braun-, Grau- und Grüntöne seine Gemälde, konstruieren flache Bildräume und binden die Elemente in die Gesamtkomposition ein. Immer häufiger vollendet Braque seine Gemälde im Atelier als Konstruktionen der Erinnerung und weniger als Abbildung des Seherlebnisses vor der Natur.
„In meiner Erinnerung war es Braque, der das erste kubistische Bild malte. Er brachte eine mediterrane Landschaft aus dem Süden mit, die ein Dorf am Meer darstellte, die man von oben sah (…) das ist wirklich das erste Bild, das den Kubismus begründet. Wir sahen es als etwas ziemlich Neues an, und es gab viele Diskussionen darüber.“
Henri Matisse über den Beginn des Kubismus
Susanne Meyer-Büser
Kuratorin der Ausstellung über das Werk
„Ich sagte dem Fluchtpunkt Lebewohl. Und um eine Projektion ins Unendliche zu vermeiden, setze ich Ebenen ein, die sich in geringem Abstand überlagern. Um zu verstehen zu geben, dass die Dinge sich nicht im Raum verteilen, sondern voreinander lagern. (…) Anstatt beim Malen mit dem Vordergrund anzufangen, versteifte ich mich auf die Bildmitte.“
Georges Braque über den Frühkubismus
Ausschnitt aus: Weltausstellung, Paris, 1900
Die Freundschaft zwischen Georges Braque und Pablo Picasso (1881 – 1973) war von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung der Malerei. Zwischen 1908 und 1914 waren sie eng miteinander befreundet und entwickelten in täglichem Austausch die Prinzipien ihrer Malerei weiter. Die Geometrisierung der Formen hatte bereits zu einer Fragmentierung des Bildraumes und der Gegenstandsformen geführt.
Im weiteren Verlauf der Entwicklung geben sie die Vorstellungen von einem festen Betrachterstandpunkt, von einem einheitlichen Raum, einer einheitlichen Lichtquelle und von Gegenstandsfarben auf, Ocker- Braun-, Grau- und Weißtöne bestimmen ihre Darstellungen, die nun aus verschiedenen Ansichten zusammengesetzt sind. Mit der Idee der Bewegung der Maler um die Dinge und der suchenden Bewegung der Augen der Betrachterinnen und Betrachter vor den Werken scheinen die Künstler des analytischen Kubismus der Vorstellung einer Welt in Bewegung zu entsprechen.
Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg bringen in Westeuropa bahnbrechende Erfindungen, neue Denkweisen und Philosophien und die faszinierende Beschleunigung des Alltags hervor. Paris gilt um 1900 als Inbegriff der modernen Stadt, des technischen Fortschritts und des kulturellen Lebens. Der Glaube an eine schöpferische Kraft und Grunddynamik in allen Lebensprozessen – wie der französische Philosoph Henri Bergson sie 1907 mit seinem Begriff „élan vital“ beschreibt - scheint hier in allen Bereichen sichtbar. Eine internationale Schar von Künstlerinnen und Künstlern und anderen Intellektuellen findet hier im Austausch vielfältige Inspirationen und Situationen, die ihre räumlichen und zeitlichen Wahrnehmungsweisen verändern. So eröffnen Automobile, die Metro, Flugzeuge, der Eiffelturm, Aufzüge und Röntgenbilder neue Seherlebnisse, Perspektiven und Erfahrungen von Raum und Zeit. Auch das immer populärer werdende Kino mit seinen bewegten Bildern und seiner Bildmagie erweitert den Wahrnehmungshorizont und wird zur Inspirationsquelle der malenden Avantgarde.
Susanne Meyer-Büser
Kuratorin der Ausstellung über das Werk
Ein Kritiker über den Kubismus / Louis Vauxcelles, Gil Blas, 14. November 1908
Ausschnitt aus: Aufzugfahrt Eiffelturm, Paris 1900
Die Ausstellung präsentiert eine kleine Gruppe von kostbaren Zeichnungen und Radierungen aus Braques Phase des analytischen Kubismus. In der Beschränkung auf die grafischen Mittel werden die zunehmende Abstraktion von der beobachtbaren Wirklichkeit, die Fragmentierung der Bildzeichen und ihre rhythmische Anordnung zu einer Flächenkomposition, die allein einer innerbildlichen Logik folgt, noch deutlicher. Mit ihren abstrakten Qualitäten erinnern diese Blätter an musikalische Notationen oder die Musik, die oft als die abstrakteste der Künste aufgefasst wird.
Diese Werke radikalisieren Fragen nach dem Verhältnis von Darstellung und Fläche und handeln von Annahmen über die geometrischen Grundlagen der Welt und des Bildträgers.
Es sind Fragen, die auch in der Diskussion um die „4. Dimension“ eine Rolle spielten. Die Relativitätstheorie, die Albert Einstein 1905 formulierte, erforderte ein neues Nachdenken über Raum-Zeit-Konstellationen sowie Wahrnehmungs- und Darstellungsmöglichkeiten in einer Welt, in der Dinge und Vorstellungen stets in Bewegung und somit von einer zeitlichen Dimension nicht zu trennen sind.
Susanne Meyer-Büser
Kuratorin der Ausstellung über das Werk
Paris-Kiosk, Paris, Eug̬ne Atget, 1910er Jahre
1912 erfand Georges Braque die „papiers collés“. In einem Farbengeschäft hatte er eine Tapete mit Holzimitat entdeckt und gekauft. Das Material faszinierte den ausgebildeten Dekorationsmaler und angesehenen Künstler, der über Fragen der Abbildung von Wirklichkeit nachdachte. Mit Tapetenstücken, Zeitungsausschnitten, Notenblättern und Programmzetteln fügte er seinen Werken reale, massenproduzierte Materialien ein.
Wenn er seine Papierformen zu komplexen Kompositionen aufklebte und schichtete und mit gezeichneten Formen ergänzte, eröffnete er Dialoge zwischen geschnittenen und gezeichneten Formen, zwischen gedruckten und gezeichneten Bildelementen. Er erweiterte so abermals das kubistische Formenvokabular und spielte mit Realitätsebenen. Zeitungen und Programmzettel der Kinos enthalten dabei Verweise auf den Alltag der Entstehungszeit und auf das Erlebnis bewegter Bilder der damaligen Filmprojektionen. Das Kino und die Dynamik des Sehens werden so auch explizit thematisiert.
Thomas A. Edison: Scene from the elevator ascending Eiffel Tower, Edison Manufacturing Co., 1900
Mit ihren Bildkombinationen und kunsttheoretischen Überraschungen bereiten die „papiers collés“ die Entwicklung des synthetischen Kubismus vor.
Ab 1913 arbeitet Georges Braque an Gemälden, die das Prinzip der Schichtungen von Bild- und Realitätsebenen in Gemälde überführen und den ganzen Reichtum seiner bisherigen Erfahrungen und die Möglichkeiten der Malerei nutzen. Gemalte Holzstrukturen beweisen das Vermögen der Malerei, das Auge zu täuschen. Gezeichnete Elemente und eingeklebte Materialien bereichern das Spiel mit Abbildungsmöglichkeiten. Dicke Farbschichten mit eingemischtem Sand variieren und zelebrieren die Oberflächenqualität des Gemäldes. Das tatsächliche Relief der Malschicht trägt bei zum Spiel mit Flächenbetonung und Raumwirkungen im Nebeneinander von transparent und opak wirkenden farbigen Flächen. Daraus erheben gegenständliche Motive als konturierte Formen.
Die Gemälde des synthetischen Kubismus entfalten so ebenso sinnliche wie intellektuelle Qualitäten.
Susanne Meyer-Büser
Kuratorin der Ausstellung über das Werk
Mobilisieruing vor dem Gare de l’Est, 3. August 1914
Am 2. August 1914 erhält Braque in Avignon seinen Einberufungsbescheid. Der Kriegsdienst bedeutet das vorläufige Ende der rasanten Entwicklung im Oeuvre des Malers.
Bei einem Fronteinsatz wird Braque 1915 schwer verwundet. Er muss sich von seiner Kopfverletzung erholen und geht dafür nach Sorgues. 1917 kehrt er nach Paris zurück und beginnt, wieder zu malen. Es gelingt ihm, nach der Zäsur wieder an sein Werk anzuknüpfen.