Mondrian hält sich ab 1908 immer wieder im Seebad Domburg auf der Halbinsel Walcheren auf. Das dortige Licht fasziniert ihn. Er malt die Dünen, das Meer, den Domburger Kirchturm und den Leuchtturm von Westkapelle. Seine Arbeiten entfernen sich Stück für Stück von einer realistischen Darstellung der Natur.
Mondrian ist deutlich beeinflusst von den französischen Avantgarde-Bewegungen wie dem (Post-)Impressionismus und dem Fauvismus. Er setzt die Pinselstriche sichtbar nebeneinander und die Farben weichen von der Farbe ab, die der Gegenstand in der Wirklichkeit hat.
Gut lässt sich das an der „Mühle bei Sonnenschein“ erkennen, die flammend rot vor einem strahlend blau-gelben Himmel steht. Das Bild ist für Zeitgenoss*innen so befremdlich, das es während einer Ausstellung im Amsterdamer Stedelijk Museum einen Skandal verursacht. Wer so male, müsse doch wahnsinnig sein, meint ein Kritiker.
Welterkenntnis durch Abstraktion Mondrian und die Spiritualität
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wächst das Interesse vieler Künstler*innen an der Theosophie — eine Kombination aus religiösen und naturphilosophischen Ansätzen, die alles Wissen auf Gott bezieht.
Diese Bewegung kann als Reaktion auf den zunehmenden Materialismus in der Gesellschaft und die grenzenlose Bejahung des Fortschritts gesehen werden. Die Theosoph*innen streben nach innerer Weisheit durch eine spirituelle Entwicklung des Geistes.
Auch Piet Mondrian beschäftigt sich mit theosophischer Literatur und beginnt fortan, eine symbolische Ebene in seine Kunstwerke einzubinden. Als er 1909 der niederländischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft beitritt, hat sich seine Weltanschauung vom Calvinismus, der sein Elternhaus prägte, durch die Theosophie entfernt. Dieser neuen Welterkenntnis verleiht Mondrian künstlerischen Ausdruck durch Abstraktion in Form und Farbe – dabei folgt er immer der allem zugrundeliegenden Idee des inneren und äußeren Gleichgewichts.
Etwa zeitgleich stellt der deutsche Wissenschaftler und Dichter Johann Wolfgang von Goethe Isaac Newtons etablierte Theorie der Farbe in Frage: Newton ging davon aus, dass die Farbe eine feste Eigenschaft real existierender Objekte sei, die das Auge beobachtet und erst das Gehirn in Farbe übersetzt.
Goethe ist anderer Meinung: er glaubt, dass jeder Gegenstand einen eigenen geistigen Farbwert zur Beobachtung des Auges hinzufügt. Seine Annahme fußt auf der Beobachtung, dass sich die Dunkelheit in tiefem Blau zeigt, während das Licht der Abenddämmerung die Welt in ein weiches Rosarot taucht. Diese Farbwahrnehmung greift Mondrian beispielsweise in „Kirchturm in Zeeland (Kirche in Domburg)“ auf und konzentriert sich, ganz im Sinne von Goethes Farbenlehre, fortan auf die Primärfarben Rot, Gelb und Blau.
Marie Tak van Poortvliet und Jacoba van Heemskerck
Piet Mondrian kennt das Paar Marie Tak van Poortvliet, eine Kunstsammlerin, und die Malerin Jacoba van Heemskerck.
Auf seiner ersten Reise im Jahr 1908 besucht er beide in ihrer Villa Loverendale, einem neu erbauten Haus in den Dünen bei Domburg. Die Villa ist ein beliebter Treffpunkt für viele Künstler*innen. Auch für Mondrian ist dieser Ort von Bedeutung – hier kann er sein Interesse an Theosophie und Anthroposophie mit Gleichgesinnten teilen.
Es ist außerdem vorstellbar, dass Mondrian hier einige Skizzen eines markanten Baumes im Garten von Loverendale angefertigt hat, welche als Vorstudien für „Der rote Baum“ (1908-1910) dienen sollten. Domburg ist bekannt als Künstler*innen-Kolonie: dort trifft Mondrian u.a. auch den Künstler Jan Toorop, der in Domburg einen Ausstellungsort eröffnet, an dem Mondrian 1911 und 1912 ausstellt. Jacoba van Heemskerck ist übrigens Teil des Ausstellungskomitees, bis sie selbst – etwas später – eine bedeutende Künstlerin der avantgardistischen Bewegung des Sturms wird. Marie Tak van Poortvliet erwirbt im Laufe der Jahre mehrere Werke von Mondrian aus der kubistischen und neoplastischen Periode.