Intro
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Kaprow City in der Kunstsammlung
Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen zeigt Christoph Schlingensiefs (1960–2010) multimediales Kunstwerk „Kaprow City“, das als eine der wenigen installativen Arbeiten des Filmemachers, politischen Aktionskünstlers, Theater- und Opernregisseurs erhalten geblieben ist. Schlingensief zählt zu den bedeutendsten Künstler*innen Deutschlands und sein früher Tod 2010 hinterlässt bis heute eine Lücke.
Ursprünglich war „Kaprow City“ eine begehbare Installation, die Schlingensief als sein letztes Theaterstück für die Berliner Volksbühne 2006 konzipierte. Ende 2007 hat Schlingensief das sich ehemals drehende Bühnenbild stillgelegt und als eine eigenständige Kunstinstallation in das Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich überführt. Nun wird die raumgreifende und vielschichtige Arbeit, die eine neue Phase im Werk dieses außergewöhnlichen Gesamtkünstlers markiert, erstmals in einem Museum in Deutschland präsentiert.
„Kaprow City“ (2006/07) erinnert an eine Materialschlacht. Nach dem Prinzip der Überforderung und freien Assoziation überlagern sich in der ehemaligen Bühnenbildstruktur zahlreiche Themen und Ideen. Die Arbeitsweise des US-amerikanischen Happening-Künstlers Allan Kaprow (1927–2006) klingt ebenso an wie Überlegungen zu einem Film über den Unfalltod von Lady Diana im August 1997. Hinzu kommen Ausschnitte aus Schlingensiefs Film „Fremdverstümmelung“ (2007) und weitere Filme, welche die einzelnen Räume der Installation zu Kinos werden lassen.
Ein Projekt der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit dem Nachlass Christoph Schlingensief und Aino Laberenz.
Dieses K+ zur Ausstellung „Christoph Schlingensief. Kaprow City“ stellt das Kunstwerk innerhalb von Schlingensiefs künstlerischem Kosmos vor. Seine Kunst war grenzüberschreitend und fasste alle Sparten zusammen, ob Film, Theater, Oper, Installation und politischen Aktionismus. Die vielen O-Töne Schlingensiefs spüren seiner typischen Arbeitsweise nach, in großer Offenheit Gedanken und Themen zusammenzuführen und weiterzuentwickeln.
Das K+ konnte nur mit großzügiger Unterstützung gelingen. Wir danken allen sehr herzlich, die uns die zahlreichen Fotos, Dokumente und Filmausschnitte für dieses K+ zur Verfügung gestellt haben – insbesondere dem Nachlass Schlingensief, Aino Laberenz mit Patrick Hilss, dem Schlingensief-Filmarchiv, Frieder Schlaich, und dem großzügigen Leihgeber der Ausstellung, dem Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich, Heike Munder, Nadia Schneider Willen und dem gesamten Team.
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Biografie
Christoph Schlingensief wurde am 24. Oktober 1960 als einziges Kind der Kinderkrankenschwester Anni und des Apothekers Hermann Josef Schlingensief in Oberhausen geboren. Angeregt durch den Vater, beginnt Schlingensief früh mit Film zu experimentieren. Nach dem Abitur und vergeblichen Anläufen, an der Hochschule für Fernsehen und Film in München angenommen zu werden, studierte er ebendort Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. In dieser Zeit versuchte er sich auch als Musiker und begann seine Karriere als Filmregisseur.
Mit seinen zahlreichen Filmen, Theater- und Operninszenierungen, Aktionen und Ausstellungen mischte sich Schlingensief zeitlebens unbeirrt in die kulturellen und politischen Diskurse ein und führte, auch in Bezugnahme auf bildende Künstler wie Joseph Beuys, Allan Kaprow oder Dieter Roth, die verschiedenen künstlerischen Gattungen in seinen Arbeiten zusammen.
Im Laufe seiner Karriere nahm er mehrere Lehraufträge wahr, u.a. an der Düsseldorfer Kunstakademie. Nach einer Gastprofessur seit 2005 wurde er 2009 Professor für Freie Kunst an der Hochschule für Bildende Kunst Braunschweig. Ebenfalls 2009 war er Jurymitglied der Berlinale. Mit seinen Inszenierungen wurde er mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen und erhielt zahlreiche Auszeichnungen.
Anfang 2008 wurde bei Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert. 2009 gründete er die Initiative Festspielhaus Afrika, im Frühjahr 2010 fand die Grundsteinlegung des ersten Operndorfes der Welt in Burkina Faso statt. Auf Einladung von Susanne Gaensheimer, heute Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, entwickelte Schlingensief erste Ideen für den Deutschen Pavillon der Biennale in Venedig. Der Pavillon wurde 2011 postum durch Gaensheimer und Aino Laberenz, die den Nachlass Schlingensief verwaltet, eingerichtet. Christoph Schlingensief starb am 21. August 2010 in Folge seiner Krebserkrankung.
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„Es transformiert sich das eine aus dem anderen“
Christoph Schlingensief, 2007:
„Der Satz ,Er baut an einem Gesamtkunstwerk' klingt nach vorsätzlichem Selbstmord. Ich kann zwischen den Genres nicht so leicht unterscheiden wie andere Menschen, weil ich sie nach Bedarf verwende und sich in meiner Arbeit das eine aus dem anderen transformiert hat. Ich brauche immer neue Widerstände, muss lernen, mir etwas aneignen können. Sobald ich etwas beherrsche, wird es langweilig. Meine Lebensversicherung ist, dass ich vom Filmemachen komme, was für mich bedeutet, an etwas festzuhalten und gleichzeitig zu wissen, es gibt mehr als das. Das Filmbild ist immer schon aufgetankt mit dem, was erst später kommt, davor schon war, daneben passiert. Mir ist es gerade sehr wichtig, zu untersuchen, wie das Bild entstanden ist und was in der Dunkelphase zwischen den Bildern passiert. Auch der Vorgang des Drehens ist wichtig, er ist die eigentliche Performance.“aus: Theater heute 8/9 2007, Schlingensief im Interview mit Eva Behrendt, abgedruckt in: Christoph Schlingensief, Kein Falsches Wort jetzt, hrsg. von Aino Laberenz, Köln: Verlag Kiepenheuer & Witsch, 2020, S. 253
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„Das ist eine Selbstprovokation“
Christoph Schlingensief im Filminterview, 2004
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„Alles hängt mit Allem zusammen“
Christoph Schlingensief zu seiner Arbeitsweise, 2005:
„Solange man mit Arbeitslosen am Wolfgangsee oder mit Asylbewerbern in der Wiener Innenstadt steht, ist man der Provokateur, der Skandalregisseur; sobald man andere Kraftfelder bewirtschaftet, die eher nach innen gehen, gilt man als fahnenflüchtig oder altersmüde. In meiner Chronologie führen „Chance 2000“, die Wien-Container oder die „Church of Fear“ nach Bayreuth und zum Animatographen; nicht immer auf dem direkten Weg, aber die Zusammenhänge sind ganz klar. Kein aktuelles Projekt könnte ohne den Input vorangegangener Projekte existieren, Alles hängt mit Allem zusammen.“aus: Der Tagesspiegel, 23. Dezember 2005, Schlingensief im Interview mit Stefanie Flamm und Norbert Thomma, hier ungekürzte Version, www.schlingensief.com
Kaprow City im Theater
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Kaprow City an der Volksbühne
Die Berliner Volksbühne mit dem Schriftzug „Kaprow City“
Ursprünglich war „Kaprow City“ eine begehbare Installation, die Schlingensief als sein letztes Theaterstück für die Volksbühne Berlin konzipiert hat. Chaotisch, akustisch wie visuell überwältigend und auf einer Drehbühne platziert, hatte Schlingensief ein Bühnenbild geschaffen, in dessen Räumen die Schauspieler*innen und Teile des Publikums ihren Platz fanden. Die Besucher*innen wurden für die Aufführung in Anlehnung an die Ideen von Allan Kaprow in Gruppen aufgeteilt und unter anderem mit alltäglichen Handlungen konfrontiert. Die Premiere fand am 14. September 2006 statt.
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„Keiner sieht alles“
Christoph Schlingensief 2006 bei seiner Einführung in „Kaprow City“
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Kaprow City
Eine kurze filmische Dokumentation des Stücks
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Programmzettel
Schlingensief hat seine eigenen Werke immer wieder begleitend kommentiert. Der Programmzettel von „Kaprow City“ enthält den Abdruck eines Vortrags von Schlingensief zum Theaterstück. Die Zeichnung, die währenddessen entstand, ist heute in Kino 5 zu sehen.
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Allan Kaprow
Allan Kaprow war ein US-amerikanischer Künstler (1927–2006). Als Namensgeber des Happenings führte er mit der Aktion „18 Happenings in 6 Parts“ 1959 in New York eines der ersten Happenings im Kontext der Bildenden Kunst auf. Das Publikum wurde für die Aktion in Gruppen eingeteilt, denen 18 unterschiedliche alltägliche Handlungen wie das Aufsagen von Wörtern vorgeführt wurden.
Kurz nach dem Tod Kaprows zeigte das Haus der Kunst in München im Herbst 2006 eine Einzelausstellung, dafür wurde „18 Happening in 6 Parts“ nochmals aufgeführt. Schlingensief hat diese Ausstellung gesehen. Kaprows Kunstverständnis inspirierte ihn wesentlich für die Inszenierung von „Kaprow City“ an der Volksbühne, der er den Untertitel „18 Happenings in einer Sekunde“ gab.
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„Wie bei Allan Kaprow“
Christoph Schlingensief über den US-amerikanischen Künstler, 2009:
„Kunst ist für mich nur interessant, wenn sie auf das Leben bezogen ist, wenn sie an der Trennung von Kunst und Leben kratzt. Wie bei Allan Kaprow, den ja kaum noch jemand kennt. Eine Aktion von ihm muss man sich ungefähr so vorstellen: Eine Gruppe von Leuten sitzt in einem Kasten und sieht dabei zu, wie jemand eine Apfelsine schält und isst. Eine andere Gruppe in einem anderen Kasten sieht, wie jemand eine Banane schält und isst. Eine dritte Gruppe sieht gar nichts, der Raum ist leer. Alle Leute kommen raus und regen sich auf: ,So ein Quatsch! Was soll das?ʻ Plötzlich hört jemand aus der Bananengruppe das Stichwort Apfelsine. Große Diskussion: Wer hat was gesehen? Die dritte Gruppe völlig im Aufruhr, kurz vor der Revolution: ,Verdammte Scheiße, was beschwert ihr euch? Wir hatten noch nicht einmal ein Stückchen Schale, wir hatten gar nichts, wir saßen stundenlang in einem leeren Raum.ʻ Das ist es doch, was um im Leben immer wieder passiert: Man sieht ein Bild und denkt, das sei die Welt, vergisst aber, dass es ganz viele Bilder von der Welt gibt.“aus: Christoph Schlingensief, Ich weiß, ich war‘s, hrsg. von Aino Laberenz, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 3. Auflage 2012, S. 51f.
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Schlingensief & das Theater
Auf Einladung des Dramaturgen Matthias Lilienthal begann 1993 Schlingensiefs Karriere als Theaterregisseur an der Volksbühne Berlin. Dem ersten Stück „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“ mit professionellen Schauspieler*innen und Laiendarsteller*innen, darunter auch behinderten Menschen, folgten ebendort u.a. „Kühnen `94“ (1994), „Rocky Dutschke '68“ (1996), „Rosebud“ (2001), „Kunst und Gemüse, A. Hipler“ (2004) und als letztes Stück die begehbare Installation „Kaprow City“ (2006). Schlingensiefs typische Art, sich in seiner Arbeit immer wieder selbst zu zitieren, wird auch darin sichtbar, wie er mit Theaterrequisiten umging. So nutzte er für „Kaprow City“ erneut die große Halbkugel aus „100 Jahre CDU“ (siehe Kino 1), seinem ersten Stück an der Berliner Volksbühne.
Außerdem inszenierte Schlingensief an weiteren Theatern, u.a. „Hamlet“ (2001) mit ausstiegswilligen Neonazis am Schauspielhaus Zürich und die ATTA-Trilogie, die sich aus „ATTA ATTA“ (Volksbühne, 2002), „Bambiland“ von Elfriede Jelinek (Burgtheater Wien, 2003) und „Attabambi – Pornoland“ (Schauspielhaus Zürich, 2004) zusammensetzt. Die Auseinandersetzung mit seiner 2008 diagnostizierten Krebserkrankung thematisierte er in seiner Inszenierung „Der Zwischenstand der Dinge“ (2008) am Maxim-Gorki-Theater, Berlin, seinem im Rahmen der Ruhrtriennale in Duisburg uraufgeführten Fluxusoratorium „Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ (2009) und in Koproduktion mit dem Züricher Neumarkttheater und dem Schauspielhaus Zürich mit „Sterben lernen – Herr Andersen stirbt in 60 Minuten“ (2009).
Kaprow City heute
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Die Transformation zur Kunstinstallation
Im Herbst 2007 richtete Schlingensief für das Migros Museum für Gegenwartskunst in Zürich seine bis dahin größte Einzelausstellung ein. Den Auftakt der Ausstellung „Querverstümmelung“ bildete „Kaprow City“, das Schlingensief vom Bühnenbild in ein Kunstobjekt überführt hatte.
Von vielen Requisiten befreit, umgebaut und durch Folien unzugänglich gemacht, bildeten drei Viertel der ursprünglichen Theaterbühne die Grundstruktur für das neue Werk. Die Raumsegmente hat Schlingensief mit Kino 1 bis 7 benannt und mit Ausschnitten seines Films „Fremdverstümmelung" (2007) und weiteren kurzen Filmen bestückt. Das Kunstwerk wurde noch zu Lebzeiten Schlingensiefs vom Migros Museum angekauft.
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Querverstümmelung
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Schlingensief im Migros Museum
Ein Fernsehbeitrag in der SRF-Tagesschau am 3. November 2007
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„Ich nehme den Schutzraum Museum an“
Christoph Schlingensief anlässlich seiner Ausstellung „Querverstümmelung“ im Migros Museum für Gegenwartskunst Zürich, 2007:
„Ich nehme den Schutzraum Museum nach meinen Erlebnissen am Theater voll und ganz an. Ich muss mich nicht darum kümmern, ob am Abend 400 Leute kommen und ich nach zwei Stunden beklatscht werde oder ausgebuht. Ich kann jetzt das machen, was ich immer gemacht habe. Und zwar alleine, wie im Schneideraum. Ein Museum hat für mich die Ausstrahlung, als wären alle draußen im Tiefschlaf, und man selbst kann arbeiten. Das mag ich sehr. […] Und am schönsten ist für mich die Erkenntnis, dass sich die Bilder auch dann noch unterhalten, wenn ich schon zu Hause bin.“Für Schlingensief markierte die Realisierung der Kunstinstallation „Kaprow City" eine neue Phase in seinem künstlerischen Schaffen: die des Nachdenkens über das von der Person des Künstlers autonome Kunstwerk. Müde geworden von der Rolle des Provokateurs, die ihm oft zugeschrieben worden war, nutzte er das Museum als „Schutzraum“, um über die eigene Rolle und Anwesenheit zu reflektieren. War er vorher bekannt dafür, selbst als Akteur mitzuwirken, konnte er die Installation nach ihrer Einrichtung als eigenständiges und von seiner Person unabhängiges Kunstwerk sich selbst überlassen.
aus: Monopol, 1/2008, Christoph Schlingensief im Interview mit Cornelius Tittel, Theater war noch nie mein Ding
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Schlingensief & die Bildende Kunst
Mit der Einladung zur documenta X 1997 wurde Schlingensief erstmals im Rahmen der Bildenden Kunst wahrgenommen. Dort wurde er bei seiner Kunstaktion „Mein Filz, mein Fett, mein Hase“ von der Polizei festgenommen, da er ein Schild mit der Aufschrift „Tötet Helmut Kohl“ verwendete.
2003 nahm er mit „Church of Fear“ an der 50. Biennale in Venedig teil. Es entstanden zahlreiche, viel beachtete Kunstausstellungen im In- und Ausland, u.a. „Ragnarök“ im Museum der Bildenden Künste Leipzig (2006), „Chicken Balls – Der Hodenpark“ im Museum der Moderne Salzburg (2006), „18 Bilder pro Sekunde“ im Haus der Kunst in München (2007) sowie „Querverstümmelung“ im Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich (2007/08), deren Schwerpunkt die Installation „Kaprow City“ bildete. Es folgten Arbeiten für das Institute of Contemporary Arts in London („Stairlift to Heaven“, 2008) und die Einzelausstellung „Der König wohnt in mir“ im Kunstraum Innsbruck (2008).
Letzte und unvollendet gebliebene Arbeiten waren ein Film mit dem Arbeitstitel „Kunst (das Wesen der …)" sowie die Gestaltung des Deutschen Pavillons für die Biennale von Venedig 2011. Postum wurde ihm am Eröffnungstag der Biennale der Goldene Löwe für den besten nationalen Beitrag zugesprochen.
Als Vorbilder aus dem Bereich der Bildenden Kunst benannte Schlingensief immer wieder Joseph Beuys und seine Idee der sozialen Plastik, Paul Thek, Paul McCarthy, Dieter Roth oder Allan Kaprow.
Lady Diana ist tot
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Ein Film über die letzten Stunden der Lady Diana
Eine Idee für das Theaterstück „Kaprow City“ war es, einen Film über die letzten Stunden der Lady Diana zu drehen, die in den frühen Morgenstungen des 31. August 1997 nach einem schweren Autounfall in einem Pariser Tunnel verstarb. Die Besetzung der Rolle mit der Schauspielerin Jenny Elvers-Elbertzhagen führte zu einem außergewöhnlichen Medienrummel im Vorfeld der Premiere.
Zur Vorbereitung des Theaterstücks wurden im brandenburgischen Teupitz Außenaufnahmen mit Diana-Doubles gedreht. Diese gingen genauso in das multimediale Theaterstück ein wie Fotos, die während des Drehs entstanden. Diese und etliche andere Requisiten wie das Lichtschild „Ritz“ – das Pariser Luxushotel Ritz gehörte dem Vater von Lady Dianas Freund Dodi Al Fayed und dort hielten sich beide auch am Unfallabend auf – oder das vermeintliche Autowrack in Kino 6 verweisen im Kunstwerk noch heute auf diesen Handlungsstrang.
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„Da war ich in der Orangerie“
Christoph Schlingensief im Interview, 2006:
Max Dax: „Erinnern Sie sich eigentlich, wo Sie sich zum Zeitpunkt von Lady Dianas Todes aufhielten?“Schlingensief: „Da war ich in der Orangerie in Kassel, ich führte im Rahmen der Documenta 10 meine Aktion „48 Stunden überleben für Deutschland“ auf. Als das Gerücht vom Unfall Dianas die Runde machte, griff ich zum Mikrofon: ,Lady Diana ist tot. Endlich hat sie ins Gras gebissen.ʻ Da wir die Einzelheiten ihres Todes nicht kannten, malten wir uns ihren Tod in freier, improvisierter Rede aus. Prompt wurde ich vor Ort festgenommen und in Handschellen abgeführt. Anständige, denunziatorische Museumsbesucher hatten sich bei der Polizei beschwert. Das war damals für viele ein Skandal.“
Dax: „Was ist das Wesen des Skandals?“
Schlingensief: „Dass er der Gegensatz zur Reinwaschung ist. Die Menschen häufen unentwegt Dreck an. Ein Skandal erlaubt ihnen, auf den Müllberg eines anderen zu zeigen.“
Dax: „Hat Sie der Tod von Lady Diana berührt?"
Schlingensief: „Ehrlich gesagt: nein. Ich habe mit Königshäusern nichts am Hut.“
Dax: „Warum dann das Stück?“
Schlingensief: „Mich interessiert eigentlich nur die abgebaute Kamera im Tunnel, überhaupt die Überwachungskameras. Es gab wohl mal ein Video von dem Crash im Tunnel, aber es ist verschwunden.“
1997 war Schlingensief von Klaus Biesenbach zur documenta X für eine Aktion im Hybrid WorkSpace in der Orangerie eingeladen worden. Es war die erste Aktion von Schlingensief im Kontext der Bildenden Kunst. Er nahm mit der Performance „Mein Filz, mein Fett, mein Hase, 48 Stunden Überleben für Deutschland“ am 30./31. August 1997 teil.
aus: Welt am Sonntag, 37/06, 10. September 2006, Christoph Schlingensief im Interview mit Max Dax, Ich glaube an die Peinlichkeit
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„Vom 'Ritz' zum 'Ritz'“
Christoph Schlingensief zum Tod Lady Dianas, 1997:
Schlingensief: „Ich glaube, Katastrophen sind dazu da, damit ich merke, dass ich noch lebe. Wenn die Zeitlinie von jemandem unterbrochen wird, aber meine weitergeht, dann kann ich mich daran orientieren. Deshalb ziehen uns Katastrophen so an. Zum Beispiel, wenn Lady Di gegen den Brückenpfeiler knallt. Da haben 2,5 Milliarden Menschen geheult. Und dabei war das ein Hundekuchen oder eine Sachertorte oder was auch immer, was da gegen den Brückenpfeiler geknallt ist.“Carla Mühlens: „Was soll denn das bedeuten?“
Schlingensief: „Mir ist das ein Rätsel, was da passiert ist: Eine Frau, die vom „Ritz“ zum „Ritz“ fährt – und dann ist sie weg, und alle trauern. Ich meine, wie viele Leute gehen von einer Mülltonne zur nächsten, und wenn sie tot umfallen, bemerkt es kein Mensch.“
aus: Marie Claire, 12/1997, Christoph Schlingensief im Interview mit Carla Mühlens, Der Überzeugungstäter, abgedruckt in: Christoph Schlingensief, Kein falsches Wort jetzt, hrsg. von Aino Laberenz, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2020, S. 91
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Diana II
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„Nicht alle haben die Chance, sich auf die Bühne zu bringen“
Christoph Schlingensief, 2009:
„Bei uns glaubt ja fast jeder, er hätte das Monopol auf die Wahrheit, er sähe das eine wahre, richtige Bild - das habe ich nie geglaubt. Ich habe immer gedacht, dass die Gesellschaft, die wir sehen, gar nicht die Gesellschaft ist, die tatsächlich anwesend ist. Dass die, die sichtbar sind, nur die Leute sind, die etwas darstellen, im buchstäblichen Sinne, die sich permanent inszenieren, um zu beweisen, dass es sie gibt. Das Problem ist nicht unbedingt die Inszenierung. Das Problem ist, dass nicht alle die Chance dazu haben, dass nicht alle die Flächen zur Verfügung haben, um sich selbst auf die Bühne und ins Leben zu bringen.“aus: Christoph Schlingensief, Ich weiß, ich war‘s, hrsg. von Aino Laberenz, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 3. Auflage 2012, S. 57
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Schlingensief & die politischen Aktionen
Schlingensiefs Handeln im Kino-, Theater- oder Kunstraum verschränkte sich immer wieder mit aktionistischen, politischen und häufig als provokant empfundenen Projekten, die ihn einem größeren Publikum bekannt machten. Zwischen 1997 und 2003 arbeitete er beispielsweise als TV-Moderator und ging mit den medienkritischen Formaten „Talk 2000“, „U 3000“ und dem Nicht-Behindertenmagazin „Freakstars 3000“ auf Sendung. Anlässlich der Bundestagswahl 1998 gründete Schlingensief die Partei „Chance 2000“. Den medialen Höhepunkt bildete die Aktion „Baden im Wolfgangsee“. Hierzu forderte Schlingensief alle sechs Millionen deutschen Arbeitslosen auf, gleichzeitig im Wolfgangsee baden zu gehen, an dessen Ufer das Ferienhaus von Kanzler Helmut Kohl stand. Ziel der Aktion war es, den Wasserspiegel des Sees zu erhöhen, mit dem Kohls Ferienhaus – oder zumindest sein Badehäuschen - überflutet wird. 2000 veranstaltete Schlingensief im Rahmen der Wiener Festwochen die Aktion „Bitte liebt Österreich“, deren Vorbild die im gleichen Jahr im deutschen Fernsehen angelaufene Reality-TV-Show „Big Brother“ war. In einem Container neben der Wiener Oper hielten sich Asylsuchende auf. Durch Abstimmung konnte das Publikum entscheiden, welcher Bewohner den Container und damit das Land verlassen musste. 2002 sorgte Schlingensiefs „Aktion 18 - Möllemann-Aktion" in Düsseldorf für große mediale Aufmerksamkeit.
Doppelbelichtung
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Schlingensief & der Film
Mit zwölf Jahren begann Schlingensief mit der Doppel-8-Kamera seines Vaters zu experimentieren. Er gründete das Jugendfilmteam Oberhausen, das unter seiner Leitung mehrere Super8-Filme mit Spielhandlung produzierte. 1981 zog er nach München und bewarb sich zweimal vergebens an der Hochschule für Fernsehen und Film. Ende 1982 kehrte Schlingensief ins Ruhrgebiet zurück und wurde Assistent des Experimentalfilmers Werner Nekes.
1983/84 entstand sein erster abendfüllender Spielfilm „Tunguska – Die Kisten sind da“. Es folgten u.a. „Menu total“ (1986), mit dem er erstmals größere Bekanntheit als Regisseur erlangte, „Egomania – Insel ohne Hoffnung“ (1986) und „Mutters Maske“ (1987/88). Zwischen 1989 und 1992 drehte er die viel beachtete Deutschlandtrilogie: „100 Jahre Adolf Hitler – Die letzten Stunden im Führerbunker“, „Das deutsche Kettensägenmassaker“ und „Terror 2000 – Intensivstation Deutschland“.
Die Handlungen und Dialoge seiner Filme beziehen sich teilweise auf bekannte Spielfilme wie „Opfergang“ (1944) von Veit Harlan, „Die 120 Tage von Sodom“ (1975) von Pier Paolo Passolini oder Tod Brownings „Freaks“ (1932), der Schlingensief zu einigen der in „Kaprow City“ gezeigten Filme inspirierte. Als weitere wichtige Vorbilder nannte Schlingensief u.a. den Fotografen und Filmpionier Eadweard Muybridge sowie die Filmregisseure Luis Buñuel, Werner Schroeter und Werner Maria Fassbinder.
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„Ich habe ja angefangen mit Filmen“
Christoph Schlingensief, Vortrag im Schauspielhaus Bochum, 24. November 2009
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Kino 1 – 7
Für die Transformation von „Kaprow City“ vom Bühnenbild zum Kunstwerk versiegelte Schlingensief die vormals begehbaren Räume mit transparenten Folien und versah sie mit den Bezeichnungen Kino 1 bis Kino 7. Anlass für die stärkere Betonung des Filmischen war zum einen der Schwarz-Weiß-Film „Fremdverstümmelung“ (2007), der in Ausschnitten in Kino 1, 2, 5 und 6 zu sehen ist. Schlingensief drehte den grobkörnigen, flackernden und von Doppelbelichtungen und Überblendungen geprägten Film kurz vor der Züricher Ausstellung von „Kaprow City“ mit einer neu erworbenen 16-Milimeter-Bolex-Kamera aus den 1930er Jahren, deren reduzierte Technik seinem Anspruch an das Filmbild entgegenkam.
Als weiteren Grund für die erneute intensive Beschäftigung mit dem Medium Film gab Schlingensief den Tod des Vaters (2007) an, der selbst leidenschaftlicher Amateurfilmer war und den Sohn früh mit unbeabsichtigten Doppelbelichtungen begeisterte. Drei Filme von Hermann Josef Schlingensief, „Neuschwanstein“ (Kino 2), „Doppelbelichtung“ (Projektion aus Kino 7) und „Christoph Waschung“ (Kino 7), zeigt Schlingensief in „Kaprow City“.
Die dritte Filmebene innerhalb des Werks bilden Dokumentationen des Theaterstücks „Kaprow City“ in Kino 1 und Kino 4 sowie eine Projektion auf die rückwärtige Wand der Kunstinstallation.
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„Wo neue Bilder entstehen“
Christoph Schlingensief zur Mehrfachbelichtung, 2009:
„Ich zum Beispiel musste für meine Eltern sechs Kinder darstellen. Ich hatte zumindest immer dieses Gefühl, weil meine Mutter und mein Vater eigentlich sechs Kinder haben wollten […]. Das ist natürlich mein eigenes Problem, wahrscheinlich hat nicht jeder mit sechs Leuten in sich zu kämpfen. Aber ich glaube trotzdem fest daran, dass diese Ebenen in uns allen schlummern, dass wir alle nicht so scharf umrissen und stabil gebaut sind. Daher ist diese Mehrfachbelichtung im Film der Hit, finde ich. Dass es ein Medium gibt, wo Sachen zusammenkommen können, die gar nicht zusammengehören, wo neue Bilder entstehen können, ist absolut großartig.“aus: Christoph Schlingensief, Ich weiß, ich war‘s, hrsg. von Aino Laberenz, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 3. Auflage 2012, S. 45f.
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„Erinnern heißt vergessen“
Christoph Schlingensief im Radiointerview anlässlich seiner Ausstellung „18 Bilder pro Sekunde“ im Haus der Kunst, München, 2007
Familie
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Schlingensief & die Familie
Schlingensief äußerte häufig, wie wichtig ihm die leibliche, aber auch seine erweiterte Familie war. Unter letztere fasste er Freund*innen sowie die Personen, mit denen er über Jahre hinweg arbeitete. Am Theaterstück „Kaprow City" und an der Transformation zur Kunstinstallation waren u.a. die Dramaturgen Carl Hegemann und Jörg van der Horst, die Kostümbildnerin Aino Laberenz, der Bühnenkonstrukteur Tobias Buser, die Kamerafrauen Meika Dresenkamp und Kathrin Krottenthaler oder Lichtdesigner Voxi Bärenklau beteiligt.
Zur erweiterten Familie gehörten genauso etliche Schauspieler*innen wie Bernhard Schütz, Udo Kier, Alfred Edel, Sophie Rois und Martin Wuttke, der Faßbinder-Clan Margit Carstensen, Irm Hermann und Volker Spengler sowie die Musiker*innen Helge Schneider und Patti Smith.
Seit 1992 begleiteten Schlingensief Schauspieler*innen mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen wie Kerstin Grassmann, Horst Gelonneck, Helga und Achim von Paczensky und Karin Witt. Sie spielten in Schlingensiefs Inszenierungen wichtige Rollen, etwa im Theaterstück „Kaprow City" oder im Film „Fremdverstümmelung“, der 2007 anlässlich von Moritz Eggerts Oper „Freax“ entstand. Der Film wird in den Ausschnitten „Die Blinden“, „Zirkus Tenero“, „Doppelte Kreuzigung“, „Tischtanz Karin“ und „Seiltanz“ in der Kunstinstallation „Kaprow City“ gezeigt.
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„Ein ganz großes Korrektiv“
Christoph Schlingensief zum Verhältnis zu seinen Eltern, 2009:
„Meine Eltern sind natürlich auch immer ein ganz großes Korrektiv in meinem Leben gewesen. Was die alles aushalten mussten, vor allem am Anfang, als ich meine Filme gedreht habe. Das war immer ein Riesendilemma für mich, wenn mein Vater die Filme gesehen hat. Zum Beispiel „Menu total“, mein zweiter Langfilm: Ein kleiner Junge rottet aus Angst vor den Ritualen seiner Eltern und Großeltern seine ganze Familie aus – und anschließend spielt er Hitler. […] Als er rauskam, hat ja jeder gedacht: Oh Gott, oh Gott, der Schlingensief, schwieriges Elternhaus, überall alte Nazis, Inzest, Perversionen hier, Perversionen da. Das war natürlich Quatsch.“aus: Christoph Schlingensief, Ich weiß, ich war‘s, hrsg. von Aino Laberenz, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 3. Auflage 2012, S. 69
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„Meine behinderten Schauspieler sind auch eine Familie für mich“
Drusenpapille
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Schlingensief & die Krankheit
Schlingensief war, wie er oft betonte, Katholik. Seine Themen kreisten um Fragen nach Wahrheit, der Angst als Produktivkraft, nach Gott und Erlösung. Fragen, die er beständig auch in Bezug zu seiner eigenen Person setzte.
Die schleichende Erblindung und schließlich der Tod des Vaters 2007 sowie seine eigenen ererbten Augenprobleme (Grüner Star, Drusenpapille) beschäftigten Schlingensief in der Kunstinstallation „Kaprow City“. In dem er Folien vor die Öffnungen der einzelnen „Kinos“ spannte, verwehrt er sowohl freien Zugang als auch ungehinderte Sicht auf die dahinter liegenden Räume. Er trübt den Blick gewissermaßen ein.
Noch während „Kaprow City“ im Züricher Migros Museum ausgestellt war, wurde bei Schlingensief Lungenkrebs diagnostiziert. In der Folge setzte er sich offensiv mit seiner Krankheit auseinander – in Theater- und Operninszenierungen wie „Der Zwischenstand der Dinge“ (2008) im Maxim-Gorki-Theater, Berlin, „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ (2008) anlässlich der Ruhrtriennale in Duisburg, „Mea Culpa, eine Readymade-Oper“ (2009) im Burgtheater, Wien, „Sterben lernen!“ (2009) im Schauspielhaus/Theater am Neumarkt, Zürich (2009) sowie in seinem Blog und dem 2009 herausgegebenen Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung“. Einige Monate nach dessen Erscheinen begann Schlingensief aufs Neue, seine Gedanken und Erinnerungen festzuhalten. Im Buch „Ich weiß, ich war’s“, das 2012 postum erschien, nahm er sein Leben in den Blick.
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„Das klare, eindeutige Bild gibt es nicht“
Christoph Schlingensief zu seinen Augenproblemen, 2007:
„Mein Vater war ja am Ende seines Lebens blind und sein Vater auch. Ich hab’ auch diese Krankheit im Auge, die Drusen. Das sind Ablagerungen auf den Sehnerven, die werden nicht mehr weggespült. Und an den Stellen ist dann das Bild angefräst. Das habe ich kombiniert mit grünem Star, der den Druck auf den Sehnerv erhöht. Man muss Tropfen nehmen, einmal am Tag. Mein Vater hat das 15 Jahre gemacht, bis er ganz erblindet war. Und gerade in letzter Zeit, als ich diese großen Augenprobleme hatte, dachte ich stark über die Bilder nach, die mir als Kind als klar beigebracht wurden, als ideal, als wirkliche Tatsache. Das klare, eindeutige Bild gibt es nicht. Es ist eine Lüge.“aus: Monopol, 1/2008, Christoph Schlingensief im Interview mit Cornelius Tittel, Theater war noch nie mein Ding
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„Ich habe entschieden darüber zu reden“
Christoph Schlingensief im Filminterview anlässlich der Inszenierung „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, Ruhrtriennale, Duisburg, 2008
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„Der Krebs ist für mich ein spirituelles Ding“
Christoph Schlingensief zu seiner Krebserkrankung, 2009:
„Ich entdecke erst jetzt, dass das schonmal da war als Angst, die sich nicht formuliert hat. Der Krebs ist für mich nicht nur ein chemischer Unglücksfall, sondern auch ein spirituelles Ding. Das hat ein Gesicht. Der Krebs ist in der Zeit entstanden, als ich mich um das Weltabschiedswerk von Herrn Wagner gekümmert habe und um Erlösung. In meinen Geschichten – „Kühnen“, „Parsifal“ – gibt’s immer Verweise auf die Erlösungsfrage, Gott sei Dank nicht immer ernst, weshalb „Das deutsche Kettensägenmassaker“ auch ein lustiger Film ist. Aber Wagners Todessehnsucht habe ich mir komplett angezogen.“aus: Theater heute 1/2009, Christoph Schlingensief im Interview mit Eva Behrendt, Ich gieße meine soziale Skulptur, abgedruckt in: Christoph Schlingensief, Kein falsches Wort jetzt, hrsg. von Aino Laberenz, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2020, S. 281
Seelenschreiber
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Schlingensief & der Animatograph
Ausgehend vom Gedanken einer begehbaren Filmspule oder „aktionistischen Fotoplatte“ entwickelte Schlingensief die Idee des sogenannten Animatographen, des Seelenschreibers. Das Langzeitprojekt ermöglichte es ihm, alle Disziplinen seiner Arbeit, Theater, Oper, Film, Installation, Aktion, miteinander zu verschmelzen und - im wörtlichen wie übertragenen Sinn - Mehrdimensionalität zu erzeugen. Eine mit wechselnden Kulissen, Requisiten und Medien ausgestattete Drehbühne lud die Besuchenden ein, den Animatographen zu benutzen und sich selbst darin zu inszenieren, „denn jeder, der den Animatographen sieht, belichtet ihn. Und jeder, der ihn betritt, wird belichtet“ (Schlingensief).
Der Ur-Animatograph entstand für die Inszenierung von Wagners „Parsifal“ (2004) für die Bayreuther Festspiele, für die Schlingensief die sich drehende Bühne mit Filmprojektionen „beleuchtete“. Die dort gemachten Erfahrungen flossen in den Animatographen „Island Edition – House of Obsession“ ein, der 2005 auf dem Reykjavik Art Festival präsentiert wurde. Es folgten weitere Animatographen wie „Deutschland Edition – Odins Parsipark“ in Neuhardenberg (2005) und „Afrika Edition – The African Twintowers“ in Namibia (2005/06). Auch „Kaprow City“ an der Volksbühne Berlin 2006 beschrieb Schlingensief als animatographische Installation.
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„Der Animatograph ist ein Objekt, das sich belichtet“
Christoph Schlingensief im Filminterview anlässlich seines animatographischen Projekts „Afrika Edition – The African Twintowers“ im Township Area 7, Lüderitz, Namibia, 2005
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„Hier kommen die Bilder zurück“
Christoph Schlingensief zur Rolle des Animatographen im Theaterstück „Kaprow City", 2006:
„,Gehirnzellen, Nervenzellen, Sehzellen, Gefängniszellen‘ All das ist in diesem Animatographen [„Kaprow City“ an der Volksbühne, Anm. d. Red.] schon angelegt. Hier ist der Mensch erblindet, hier kommen die Bilder zurück, hier ist die Dunkelheit, ohne die es keine Bewegung gibt. […]Die Wundertrommel ist keine Abgrenzungsveranstaltung, sondern von einem großen integrativen Bedürfnis getragen, sie ist ein Hinweis darauf, dass in der Dunkelheit die Information schlummert, dass aber in der Lichtblitzwelt von heute die Bilder sich nicht mehr herauskristallisieren können, weil sie die ganze Zeit mit anderen Bildern überdeckt werden. Darum ist der Animatograph auch ein Bekenntnis zur Übermalungsstrategie und deren Unterwanderung, das heißt, Wahrheit gäbe es, wenn überhaupt, nur als schon überpinselte. Wenn ich sie haben will, muss ich an ihr kratzen und in dem Moment wo ich an ihr kratze, verändere ich schon wieder die Oberfläche.“
aus: Programmzettel zu Kaprow City an der Volksbühne Berlin, 7. September 2006
Fremdverstümmelung
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Freaks / Freax
Mit seinen Wagner-Inszenierungen machte sich Schlingensief einen Namen als Opernregisseur und wurde 2007 im Rahmen des Beethovenfests Bonn mit der Inszenierung von Moritz Eggerts Oper „Freax“ beauftragt. Sie basiert auf dem, von Schlingensief verehrten Film „Freaks“ (1932) von Tod Browning, in dem Kleinwüchsige und Behinderte als ,Freaks‘ in einem Zirkus die Hauptrollen spielen. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Rolle von Behinderten in der Operninszenierung zog sich Schlingensief jedoch aus dem Projekt zurück. Er vertrat die Auffassung, dass die Hauptrollen in einem Stück über behinderte Menschen auch mit ebendiesen besetzt werden sollten. Sein für die Oper entstandener Schwarz-Weiß-Film „Fremdverstümmelung“ wurde schließlich in der Pause der nun konzertant uraufgeführten Oper gezeigt. Einzelszenen aus diesem Film integrierte Schlingensief im Kunstwerk „Kaprow City“.
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Schlingensief & die Oper
Auf der Biennale Venedig, für die er 2003 seine „Church of Fear – 1. Internationaler Pfahlsitz-Wettbewerb“ realisierte, erreichte Schlingensief die Berufung, Richard Wagners „Parsifal“ für die Spielzeit 2004 bis 2007 in Bayreuth zu inszenieren. Parsifals Satz „Zum Raum wird hier die Zeit“ prägte eine Grundidee der Inszenierung. Das Zentrum bildete eine große Drehbühne, die extra für die Produktion im Festspielhaus installiert wurde. Sie ermöglichte es Schlingensief, den statischen Theaterraum in einen „filmischen“ Raum der Bewegung zu verwandeln.
Im Rahmen des XI. Festival Amazonas de Ópera Teatro Amazonas inszenierte Schlingensief im Frühjahr 2007 Wagners „Der fliegende Holländer“ in der Oper in Manaus, Brasilien. Wenige Monate später errichtete er auf einem 1.200 Quadratmeter großen Areal in São Paulo „Trem Fantasma“, eine Opern-Geisterbahn durch die Geschichte der Oper. Es folgten die Operninszenierungen „Jeanne D‘Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ (2008) an der Deutschen Oper Berlin und „Mea Culpa – Eine ReadyMadeOper“ (2009) am Burgtheater, Wien. 2010 sollte Schlingensief die Oper „Metanoia“ von Jens Joneleit an der Berliner Staatsoper Unter den Linden inszenieren. Am 21. August, zwei Tage vor Probenbeginn, starb Christoph Schlingensief im Alter von 49 Jahren in Folge seiner Krebserkrankung.
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„Und dann wurde ich eingeladen nach Bayreuth“
Christoph Schlingensief, Vortrag im Schauspielhaus Bochum, 24. November 2009
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„Die Musik ist mein Begleiter in der Dunkelphase“
Schlingensief 2007 im Radiointerview anlässlich seiner Ausstellung „18 Bilder pro Sekunde“ im Haus der Kunst, München
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„Die Widersprüche machen Wagner interessant“
Christoph Schlingensief zu seiner Operninszenierung „Der fliegende Holländer" in Manaus, Brasilien, 2007:
„Wagner sehe ich als Wanderer zwischen den Welten, der sich der Vereinnahmung entzogen hat, sowohl biographisch als auch musikalisch. Da war der Freiheitskämpfer, der auf die Barrikaden geht, und der Verfasser antisemitischer Schriften, der Komponist beinahe biederer Opern wie Meistersinger und transzendenter Opern wie Parsifal oder auch Holländer. Die Widersprüche machen Wagner interessant, nicht das Gerede über Gesamtkunstwerke oder Deutungshoheiten. Seine Aufladung erfährt er durch den Widerspruch. Der deutsche Wagner nach Reinheitsgebot und Manaus unter seiner Dunstglocke, das passt nicht, das stößt sich – und ist gerade darum Energie pur.“aus: Navio fantasma – ópera fantástica, Christoph Schlingensief im Interview mit Martina Merklinger, 25. Juli 2007
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Schlingensief & das Operndorf Afrika
2008 entwickelte Schlingensief seine Idee für das „Operndorf Afrika“, das er als interkulturelle Begegnungs- und Experimentierstätte andachte, als einen Ort, der Kunst und Leben miteinander vereint. Dabei stand der Begriff ‚Oper‘ für eine Kunstform, die emotionale, politische und gesellschaftsverändernde Qualitäten zu bilden vermag. Drei Säulen sah Schlingensief für das Operndorf vor: Bildung, Gesundheit und Kultur. Für das architektonische Konzept konnte er den renommierten Architekten Francis Kéré aus Burkina Faso gewinnen.
In Schlingensiefs Anwesenheit erfolgte im Februar 2010 die feierliche Grundsteinlegung unweit von Ouagadougou, der Hauptstadt Burkina Fasos. Seit dem Tod Schlingensiefs im August 2010 leitet Aino Laberenz die Geschäfte des Operndorfes.
Bis 2020 wurden die ersten beiden Bauphasen, eine Grundschule und eine Krankenstation, realisiert. Schwerpunkt der dritten Bauphase ist die Errichtung des Festspielhauses in der Mitte des Geländes, es bildet das Herzstück des Projekts. Als multifunktionales Gebäude soll es zukünftig als Ort der Versammlung und der Kunst, aber auch als Marktplatz oder Schulaula dienen.
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„Eigentlich kann man nichts falsch machen“
Christoph Schlingensief anlässlich seines Projekts Operndorf Afrika, 2009