CLIPS VON FORUM DCCA

Fabian Bechtle und Leon Kahane vom Forum für demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst (Forum dcca) entwickelten für Hito Steyerls jüngste Arbeit „SocialSim“ (2020) eine Skala, deren Parameter einige maßgebliche Gefährdungen für die Demokratie erfassen. Für die Kunstsammlung produziert das Forum zusätzlich Videoclips, die diese Parameter kommentieren und kontextualisieren.

Das Forum dcca ist ein Projekt der Amadeu Antonio Stiftung. Es befasst sich unter anderem mit den Kontinuitäten von Antisemitismus und Rassismus in den Kulturdebatten der Gegenwart. Während der Laufzeit von „Hito Steyerl. I Will Survive“ werden die Clips regelmäßig hier im K+ sowie auf den digitalen Kanälen der Kunstsammlung veröffentlicht

  • Parameter aus der sozialen Simulation „Dancing Mania“ in der Ausstellung „Hito Steyerl. I Will Survive“:

  • #1 Umgeleitete Kommandomunition (in Tonnen)

    Mehr als 100 Waffen und zehntausende Schuss Munition sind aus dem Inventar der deutschen Streitkräfte und der Polizei verschwunden. Ende 2018 wurde ein umfangreiches Netzwerk von Rechtsextremisten in ganz Deutschland aufgedeckt. Das Hannibal-Netzwerk operierte in regionalen Gruppierungen in ganz Deutschland mit weiteren Niederlassungen in Österreich und der Schweiz und umfasste u.a. aktive Soldaten, Reservisten, Polizisten, Anwälte, Richter und Geheimdienstagenten. Seitdem werden immer neue rechtsextreme Strukturen und Zellen in Polizei und Militär aufgedeckt.

  • #2 Discord Märtyrer (pro gamifiziertem Terrorangriff)

    Interview mit Veronika Kracher (Journalistin und Autorin) 
    Durch die Gamification (die Übertragung von spieltypischen Elementen in spielfremde Zusammenhänge) wird suggeriert, etwas sei ein Spiel und nicht die tatsächliche Aufgabe, die man vor sich hat. Dadurch wird vermittelt, man selbst sei auf einer epischen Reise, an deren Ende die persönliche Heldinnenwerdung steht. Es gibt eine Internetseite, die sich Encyclopedia Dramatica nennt und eine Art zynisches Wikipedia ist. Diese Seite zählt die Opfer von terroristischen Attentaten auf einer sogenannten Highscore-Liste.

  • #3 Verbleibende Tage zum Tag X (pro Tag) 

    Prepper (abgeleitet vom Englischen to be prepared - bereit sein) finden ihre politische Heimat in autoritären, militanten und rechtsextremen Milieus. In ständiger Erwartung der Apokalypse sehen sie jedes Anzeichen einer Krise als Beweis, sich auf den Tag X vorbereiten zu müssen. Der Tag X wird zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, deren Kern die Angst vor der Zerstörung der eigenen Kultur ist.

  • #4 Unterstützung für die Hufeisentheorie (pro Reiterstaffel) 

    Interview mit Enrico Heitzer (Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen) 
    Die Hufeisentheorie ordnet politische Parteien auf einer Skala in Hufeisenform an. In diesem Modell sind sich die politischen Ränder näher als die gemäßigten rechten und linken Parteien. So entsteht zunehmend auch eine Gleichsetzung zwischen linken Gruppierungen wie der Antifa und rechtsextremen Gruppierungen. Sie hat im wissenschaftlichen Kontext kaum Bedeutung und ist vor allem eine publizistische Kontroverse. Die Hufeisentheorie bietet die Annehmlichkeit, sich in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft von der Vergangenheit zu entlasten.

  • #5 Deutsche Kulturvermittlung (in Heidegger Übersetzungen) 

    Martin Heidegger gehört bis heute zu den am häufigsten übersetzten deutschen Philosophen. Er war von 1933 bis 1945 NSDAP-Mitglied. 2014 wurden seine „Schwarzen Hefte“ veröffentlicht. In diesen privaten Notizen Heideggers wird ein Antisemitismus und Faschismus explizit, der sich nicht nur auf sein Privatleben bezieht, sondern auch seine Philosophie der Seinsgeschichte kontaminiert. Heideggers Überlegungen zu Fragen von Kultur und Identität decken sich punktuell mit der „Blut und Boden“-Ideologie der Nationalsozialisten. In der inzwischen internationalen „Identitären Bewegung“ von Russland bis Amerika, wird Heidegger auch heute als eine der zentralen Bezugsgrößen gehandelt.

  • #6 Soros Beschuldigungskonstante (pro jüdischer Konspiration) 

    Im 13. Jahrhundert fand die Legende der Ritualmorde ihren Weg von England nach Deutschland. Sie besagt, dass Juden für magische und medizinische Rituale während des Pessach Fests christliche Kinder töten und ihr Blut trinken. Auch Martin Luther diente die Legende dazu, allen Juden heimliche Mordabsichten an Christen zu unterstellen.
    Die Jahrhunderte alte Ritualmordlegende lebt mit der aktuell populärsten Verschwörungsideologie „QAnon” wieder auf. Ihre Anhänger*innen behaupten, dass Eliten aus liberalen Globalisten und jüdischen Bankern mit dem in satanischen Ritualen gewonnenen Blut entführter Kinder ihr eigenes Leben verlängern wollen.

  • #7 Kritisches historisches Bewusstsein (pro Wagner-Denkmal) 

    „Im Kunstwerk werden wir Eins sein“, schrieb Wagner in „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850) und brachte damit die tiefe Sehnsucht nach nationaler Einheit auf eine Formel. Der deutsche Mythos von der Kultur als Basis nationaler Identität wurde später zum Mythos der Rettung der Deutschen durch eine vermeintlich arische Kultur. Wagner ist eines der prominentesten Beispiele für einen Künstler, bei dem immer wieder die Trennung von Werk und Autor gefordert wird. Generell dient Trennung von Werk und Autor als kulturelle Selbstentlastung und als Rehabilitation des deutschen Kulturerbes und seiner Autoren. Diese entlastende Scheinargumentation ist heute noch für Menschen attraktiv, die sich durch die Interpretation ihrer eigenen Aussagen in die sogenannte rechte Ecke gestellt fühlen.

  • #8 Verbreitung manischer Leugnung (pro Gefühl) 

    Der deutsche Propagandafilm „Germanen gegen Pharaonen“ von 1936, folgt einem Drehbuch, dass sich im neurechten Milieu nach wie vor unverändert abspielt. Ein Wissenschaftler und seine Arbeit wird von vermeintlichen Skeptikern und sogenannten Pangermanisten angezweifelt. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden mit völkischen Ideologien konfrontiert, die anhand von willkürlich zusammengetragener Indizien und Behauptungen nachweisen sollen, dass selbst die Cheops-Pyramide auf germanisches Wissen und germanische Ursprünge zurückzuführen ist. Historische und wissenschaftliche Erkenntnisse und Tatsachen werden geleugnet. Ziel dieser pseudowissenschaftlichen Intervention ist es, die Erzeugnisse vergangene Hochkulturen zu Zeugen einer überlegenden arischen Rasse umzudeuten. Gerade der starke Bezug auf alte Kulturen und Überlieferungen, machen diese Mythen bis heute so attraktiv für die rechte Szene. Das Bedürfnis sich mit einer alten germanischen Tradition zu identifizieren wird durch die lange Tradition der völkischen Pseudowissenschaft unterlegt und damit erst gerechtfertigt.

  • #9 Von Polizeiservern gesendete Todesdrohungen (pro Tag) 

    Predictive policing verbindet verschiedenste Datensätze und soll so Verbrechen verhindern, bevor sie begangen werden. Die Methode ist hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirksamkeit und vor allem aus Datenschutzgründen stark umstritten. Aktuelle Fälle von nicht autorisierten Datenabfragen aus den Reihen der Polizei, die im Zusammenhang mit rechtsextremen Drohschreiben stehen, zeigen bereits jetzt erhebliche Sicherheitslücken auf. Die Entwicklung zum algorithmusbasierten Predictive Policing könnte die Polizei zunächst an sich selbst erproben, um Vertrauen zurück zu gewinnen.

  • #10 Identitärer Neidfaktor (pro kultureller Aneignung)

    Bisher hat noch jede Veränderung moderner Gesellschaften Gegenbewegungen hervorgerufen. Im Zeichen der Angst vor Kultur- und Identitätsverlust wird ein „Kulturkampf“ ausgerufen, der die Abwertung und Abwehr Anderer legitimiert. Dieser Kampfmodus lebt von Selbstviktimisierung und einer fantasierten Bedrohungslage. Er geht mit einer Projektion auf eine angeblich ungebrochene Identität einher, die sich an tradierten und hierarchisch strukturierten Gesellschaften und Rollenbildern orientiert. Dies zeigt sich in einer erhöhten Sichtbarkeit von völkischer Folklore und Esoterik bei gleichzeitiger Reproduktion rechter Rhetorik. Es geht bei solchen Fixierungen um die Artikulation von Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die qua Selbstbeschreibung nicht verantwortlich für das vermeintliche Übel der Welt ist und sich selbst zum Opfer stilisiert. Aktuell zeigt sich diese Bewegung in den radikalen Protesten gegen die Corona-Massnahmen.
    Interview mit Marina Weisband (Politikerin und Psychologin)

  • #11 Kanye Komplex (neue Infektionen pro Tag)

    „Innerhalb von politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Debatten kann man immer über Deutungen streiten. Diesen Formen von Streit, von Auseinandersetzungen, von Kontroversität, von Pluralismus als Wesenskern der Demokratie liegt erstmal die Annahme zugrunde, dass wir über unterschiedliche Deutungen streiten, aber nicht über die Frage von Faktizität. Die Postmoderne stellt in Abrede, dass es so etwas wie Wahrheit gäbe und inthronisiert sich damit - und das ist das eigentlich paradoxe - selbst in diesen Status.“
    Interview mit Prof. Dr. Samuel Salzborn (Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus)

  • #12 Cancel Culture Effizienz

    Die sogenannte Cancel Culture ist in erster Linie ein Kampfbegriff derjenigen, die politische Standards wie Gleichberechtigung, Geschichtsbewusstsein und Meinungsfreiheit ablehnen. Zur Rechtfertigung dieser Ablehnung werden Demokratien in die Nähe von Diktaturen gerückt. So lässt sich die Erzählung einer Cancel Culture umfassend rechtfertigen. Denn nur in wirklichen Diktaturen und autoritären Regimen ist die Cancel Culture eine durchdringende Gesellschaftsform. Die Entscheidungsfreiheit zu haben, Kritik entweder zu erwidern oder diese anzunehmen, ist hingegen der Kern demokratischer Gesellschaften. Von diesem Versprechen profitieren auch diejenigen, die sich als Opfer einer vermeintlichen Cancel Culture fühlen.

  • #13 MAKE CRAFT AND SPIRITUALITY GREAT AGAIN (PRO BIENNALE)

    Der Essentialismus ist zu einem attraktiven Ausweg aus den überfordernden Konflikten geworden, die in einer globalisierten und vernetzen Welt näher rücken. Daher ist es nur logisch, dass auch im sonst progressiven deutschen Kulturmilieu zunehmend die Forderung gestellt wird, die Deutungshoheit über den Begriff der Heimat zurückzugewinnen zu müssen. Dieser Begriff war jedoch selbst nie progressiv, sondern immer rückwärtsgewandt. Der Publizist, Politiker und Historiker Alexis de Toqueville beschrieb schon im 19. Jahrhundert, dass die gesteigerte Wahrnehmung der Konflikte nicht zwangsläufig daran liegt, dass ständig die Konflikte zunehmen, sondern dass durch zunehmende soziale Gerechtigkeit auch die Sensibilität gegenüber sozialer Ungleichheit wächst.

  • #14 Tik Tok Fieber (pro Infiltration)

    Das Jahr 2020 war ein Jahr voller Krisen, Entbehrungen, Leid und Trauer. Und es war ein Jahr, in dem Menschen auf verschiedene Art und Weisen protestiert haben. Manche haben sich in einen künstlichen Widerstand gegen eingebildete Feinde begeben, wie zum Beispiel die Corona Leugner*innen, die QAnon-Anhänger*innen, manch ein veganer Koch, Naidoo und der Wendler.

    Andere haben wiederum gegen einen ganz realen Feind protestiert, vor dessen Bedrohung viele Menschen immer wieder die Augen verschliessen. Der Mord an George Floyd durch einen Polizisten hat tagelange Proteste der Black Lives Matter Bewegung nach sich gezogen. BLM wird von Millionen von Menschen innerhalb und außerhalb Amerikas unterstützt und gilt als die größte Protestbewegung in der Geschichte der Vereinigten Staaten.

    Fans der südkoreanischen Popmusikindustrie haben vor allem über TikTok Spenden für BLM gesammelt und mobilisiert, um Social-Media-Hashtags von ihren politischen Gegnern zu überladen. K-Pop-Fans spammten beispielsweise Hashtags wie #AllLivesMatter, #BlueLivesMatter und #WhiteLivesMatter, mit denen BLM in sozialen Medien abgelehnt wurde.