Pollock, Jackson
1912 – 1956

1912 geboren in Cody (Wyoming)
1929−1931 Studium an der Art Students League in New York
1930−1935 Reisen und Aufenthalte in den Weststaaten, gelegentliche Besuche bei den Navajo-Indianern in New Mexiko
1935 Umsiedlung nach New York
1938−1942 arbeitet er für das Federal Art Project der WPA
1942 lernt er Peggy Guggenheim kennen und hat seine erste Einzelausstellung bei ihr
1950 Teilnahme an der „25. Biennale“, Venedig
1956 stirbt Jackson Pollock bei einem Autounfall in New York

Number 32, 1950 / Nummer 32, 1950, 1950

Lackfarbe auf Leinwand
269 x 457,5 cm


© Pollock-Krasner-Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Walter Klein, Düsseldorf

„Number 32, 1950“ zählt zu den radikalsten Bildfindungen nicht nur im Werk Jackson Pollocks, sondern in der amerikanischen Kunst des Abstrakten Expressionismus überhaupt. Es steht paradigmatisch für die Ablösung der New York School von der europäischen Kunstgeschichte und für die Artikulation eines neuen amerikanischen Selbstbewusstseins in der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg. „Number 32, 1950“ stellt eine Summe und Steigerung seiner Kunst seit dem Ende des Jahres 1947 dar.

Die Wirkung von „Number 32, 1950“ basiert allein auf dem Zusammenspiel von schwarzem Farbstoff und hellem Bildträger. Als Farbe verwendete der Künstler industriell hergestellten Duco-Lack, als Bildträger ungrundierte Leinwand. Die entscheidende Neuerung in Pollocks Werkprozess bestand in der Art und Weise, wie die Farbe auf die Leinwand aufgebracht wurde. Pollock verabschiedete die konventionelle Arbeit an der Staffelei, lagerte den Bildträger horizontal auf dem Fußboden und beförderte die flüssige Farbe mit Hilfe von Malstöcken und Pinseln durch Gießen, Schütten, Tropfen und Spritzen auf die Leinwand. Während der Arbeit bewegte sich der Künstler in tänzerischem Rhythmus um die Leinwand herum, überspielte deren Ränder mit den Tropfspuren der Farbe und betrat die Leinwand von Zeit zu Zeit, um die Mitte der Bildfläche erreichen zu können. Ruhige und dynamisch bewegte Phasen wechselten im Werkprozess einander ab. Zudem vollzog sich die Arbeit in Intervallen, denn eine Farbschicht musste getrocknet sein, wenn die nächste aufgebracht wurde. Die Schwerkraft und der Flüssigkeitsgrad der Farbe, der Grad der Sättigung der Leinwand und das Verhalten der Farbe im Trocknungsprozess waren an der endgültigen Bildgestalt der Drip Paintings wesentlich beteiligt. In „Number 32, 1950“ finden sich Partien, in denen die Farbe vollständig von der Leinwand aufgesogen wurde, neben solchen, in denen die Farbe glänzend oder reliefhaft erhaben auf der Leinwand steht.

Pollocks Verfahren des Dripping bricht mit einer ganzen Reihe von gängigen Bildpraxen und -vorstellungen in der Tradition des neuzeitlichen Tafelbildes. Durch die kolossale Steigerung des Bildformates und die expansive Bearbeitung der Bildfläche wurden die Grenzen des Bildes als ästhetische Problemzone ins Bewusstsein gehoben. Das Bildergebnis kam ohne direkten Kontakt zwischen den Malutensilien und dem Bildträger zustande. An die Stelle der individuellen Handschrift, der Selbst-Setzung des Künstlerschöpfers in der Pinselfaktur, trat die schiere „Faktizität von Farbe und Leinwand“.

Bald nach der Entstehung der ersten Drip Paintings hat die amerikanische Kritik antagonistische Deutungen hervorgebracht, die die Pollock-Literatur bis heute bestimmen. Der Kunstkritiker Clement Greenberg hat die formale Struktur der Drip Paintings mit dem Begriff des All-over charakterisiert: Das dichte Gewebe der Farbspuren und -verknotungen scheint die Grenzen der Leinwand zu negieren. Außerdem lässt sich kein Zentrum oder Schwerpunkt im Bild ausmachen; das heißt es verzichtet auf die Subordination der Einzelelemente unter eine dominierende Gesamtkomposition, wie sie das traditionelle Tafelbild auszeichnet. Es ist unhierarchisch angelegt; an die Stelle eines Bildzentrums ist eine Reihe gleichberechtigter Brennpunkte gerückt, die – in Verbindung mit dem monumentalen Format – das Bild als in sich geschlossene Sinneinheit in Frage stellen.

Die verunsichernde Erfahrung des Bildes, das sich allen Konventionen der Bildbetrachtung entzieht, führte konsequent zur Verschiebung des Interesses vom Bild auf den ungewöhnlichen Prozess seiner Entstehung: Malerei wurde als Ereignis und Handlungsvorgang aufgefasst, die Leinwand als Arena des Künstlers. Der amerikanische Kritiker Harold Rosenberg propagierte mit dem Begriff des Action Painting ein Verständnis der Drippings, in dem Werk und Aktion, Kunst und Leben in eins gesetzt wurden. In Verbindung mit den suggestiven Fotografien und Filmen Hans Namuths, die das physisch-vitale Agieren des Künstlers im Atelier eindrücklich dokumentieren, beförderte Rosenberg den Mythos des Avantgardekünstlers, der sich selbstvergessen und intuitiv auf der Leinwand als Bühne auslebt.

Neuere Interpretationen betonen im Gegensatz zu Rosenbergs „Mythos der reinen Aktion“ ein hohes Maß an künstlerischem Kalkül, gehen von einer bewussten Strukturierung des Bildes aus und fordern den reflektierenden Nachvollzug durch die Betrachtenden. Denn vom Künstler wird größte Konzentration verlangt, um jede denkbare Möglichkeit einer gegenständlichen Assoziation oder einer Schwerpunktbildung zu vermeiden. Seine Setzungen auf der Leinwand sind alles andere als chaotisch oder zufällig. Entsprechend hohe Anforderungen stellt das Bild an die Betrachtenden, die angesichts des monumentalen Formates und des komplexen Formengewebes standortlos geworden sind: „Die Ästhetik Pollocks erfordert eine Anschauung, die nicht mehr in sich ruht, sondern in der Reflexion entfaltet wird.“