Pape, Lygia
1927 – 2004

Pintura, 1953

Öl auf Leinwand
75 x 105,5 x 4 cm


Erworben 2020

© Lygia Pape

Lygia Pape (1927 in Novo Friburgo geboren und 2004 in Rio de Janeiro gestorben) ist eine der zentralen Schlüsselfiguren der brasilianischen Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In über fünf Jahrzehnten entfaltete sie ein vielschichtiges, die unterschiedlichsten Medien, Gattungen und Disziplinen umfassendes Werkkonvolut, das sie auf der Basis ihrer Experimentierfreude und im Spannungsfeld von ästhetischen, ethischen und politischen Auseinandersetzungen in einem von kultureller Vielfalt und sozialen Ungleichheiten geprägten Vielvölkerstaat Brasilien fortwährend weiterentwickelte.

Ihr dennoch stringent in sich verwobener Werkkosmos umfaßt neben abstrakt-geometrischen Gemälden, Zeichnungen und Reliefs, unikale Holzschnitte, zwei Ballettkompositionen, Bücher in unterschiedlichen Formen, Skulpturen, immersive Rauminstallationen, kollektive Aktionen und Performances im öffentlichen Raum, Filme, plurisensorische Experimente, eine unerschöpfliche Anzahl von Gedichten und Texten, das Studium der Philosophie sowie die Lehrtätigkeit und die damit verbundenen, architektursoziologischen und experimentellen Erkundungen des urbanen Raums in Rio de Janeiro als Teil ihrer künstlerischen Praxis.

In einer ambivalenten Zeit zwischen zwei repressiven Diktaturperioden (Estato Novo unter Getúlio Vargas 1937-1945 und der Militärdiktatur 1964-1985) und einer äußerst fruchtbaren Phase von kulturellen, urbanen und wirtschaftlichen Modernisierungsprozessen entwickelte Pape im Umfeld des Kollektivs Grupo Frente (1954-56) um Ivan Serpa und als Gründungsmitglied der daraus hervorgehenden neokonkreten Bewegung (Neoconcretismo 1959-1961) in Rio de Janeiro ihr spezifisches Verständnis einer geometrischen Abstraktion, die eine radikale Neukonzeption der konkreten-konstruktivistischen Kunst zur Folge hatte. In der Auseinandersetzung mit der europäischen Avantgarde – insbesondere mit Piet Mondrian und Kasimir Malewitsch – sowie mit philosophischen Positionen wie Maurice Merlau-Ponty und Susanne K. Langer und einer gleichzeitigen Verortung in der lokalen, kulturellen Tradition Brasiliens verfolgte sie gemeinsam mit ihren künstlerischen Weggefährten einen aktiven, experimentellen Ansatz, der Partizipation, Sinnlichkeit und die Integration von Kunst in das tägliche Leben in den Vordergrund stellte.

Das 2020 von der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen aus dem Nachlaß erworbene Gemälde Pintura (1953) ist eines von insgesamt nur vier Ölgemälden auf Leinwand im Werk von Lygia Pape. Es markiert ihre künstlerischen Anfänge, in denen sie sich mit einer abstrakten, an organische Formen anlehnende Bildsprache und mit Farbe als visuelles und sinnliches Ausdrucksmittel auseinandersetzte. Collageartig angelegte und ineinander verflochtene graubeige, braunbeige und schwarze abstrakte Formen auf einem warmen violettblauen Farbgrund organisieren die Bildfläche und laden das Auge gleichzeitig in einen dynamischen, von Farbstrukturen komponierten Wahrnehmungsraum ein. Bereits im Jahr seiner Entstehung und zeitgleich mit ihren ersten Experimenten mit Holzschnitten (den sogenannten Tecelares), in denen sie organisch-abstrakte Formen einander überlagert und in einen, mit den sichtbaren Maserungen und der lebendigen Textur des Holzes spielenden, poetisch-dynamischen Wahrnehmungsraum öffnet, wurde dieses Gemälde 1953 – laut einem auf der Rückseite des Bildes angebrachten Etiketts – auf der „II.a Bienal do Museu de Arte Moderna de São Paulo“ ausgestellt.

In den folgenden Jahrzehnten – den Parametern der formalen Experimente des Neokonkretismus treu bleibend – entwickelte Pape im Austausch mit Positionen wie Hélio Oiticia, Lygia Clark, Ivan Serpa, Mário Pedrosa, Ferreira Gullar oder Reynaldo Jardim und später auch im Umfeld ihrer Studierenden ein von plurisensorischen, leiblich-intuitiven und poetischen Prozessen und Qualitäten geprägten, dynamisch-offenen Organismus, der sich dem lebendigen urbanen Raum als Ort von Entdeckungen genauso öffnete wie dem kreativen Potential der populären Handwerkskunst, den alternativen architektonischen Strukturen der Favelas oder dem kulturellen, über Jahrhunderte hinweg marginalisierten indigenen Erbe der Tupinambá.