Dialoge im Wandel
Fotografien aus
The Walther Collection
9. 4. — 25. 9. 2022
Martina Bacigalupo, Sammy Baloji, Oladélé Ajiboyé Bamgboyé, Yto Barrada, Bernd und Hilla Becher, Jodi Bieber, Edson Chagas, Mimi Cherono Ng’ok, Kudzanai Chiurai, Alfred Martin Duggan-Cronin, Theo Eshetu, Em’kal Eyongakpa, Rotimi Fani-Kayode, Samuel Fosso, François-Xavier Gbré, David Goldblatt, Kay Hassan, Délio Jasse, Seydou Keïta, Lebohang Kganye, Sabelo Mlangeni, Santu Mofokeng, S.J. Moodley, Zanele Muholi, Mwangi Hutter, Mame-Diarra Niang, Grace Ndiritu, J.D. 'Okhai Ojeikere, Dawit L. Petros, Jo Ractliffe, August Sander, Berni Searle, Malick Sidibé, Penny Siopis, Mikhael Subotzky, Guy Tillim, Hentie van der Merwe, Nontsikelelo Veleko, Sue Williamson und historisch-ethnografische Fotografien.
Nontsikelelo (Lolo) Veleko
Der K+ Digital Guide zur Ausstellung „Dialoge im Wandel. Fotografien aus The Walther Collection“ zeigt die Entwicklung der Fotografie als eine Geschichte transnationaler Parallelen und Widersprüche. Wichtiger Ausgangspunkt für die Ausstellung ist die 2010 von Okwui Enwezor (1963–2019) kuratierte Gruppenausstellung „Momente des Selbst: Porträtfotografie und soziale Identität“ in The Walther Collection (Neu-Ulm).
Susanne Gaensheimer, Direktorin der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, spricht über die Ausstellung „Dialoge im Wandel. Fotografien aus The Walther Collection“ im K21
Die zusammengestellten Fotografien decken das ambivalente – und sich wandelnde – Verhältnis zwischen Bild und Selbstbild, Porträt und sozialer Identität, Darstellung und Inszenierung auf. Es zeigen sich Bezüge zwischen den Anfängen ethnografischer Dispositive während der Kolonialzeit, der selbstbestimmten Studiofotografie vor, während und nach den Unabhängigkeitsbewegungen und dem visuellen Aktivismus der konzeptuellen Bildprojekte einer jüngeren Generation von Künstler*innen im 21. Jahrhundert.
S. J. Moodley
Mwangi Hutter, Künstler*innen Duo, erweitern den K+ Digital Guide mit einer neu produzierten künstlerischen Videointervention
Die ausgewählten Werke fordern auf, die gängigen westlichen Vorstellungen und weißen Konstruktionen vom Kontinent Afrika kritisch zu hinterfragen. Sie kritisieren das Konzept des ‚Anderen‘, das Konstrukt des Rassismus und die Reproduktion von jahrhundertealten Fremdzuschreibungen. So engagieren sie sich für mehr Empathie, Sichtbarkeit, Respekt und Aufmerksamkeit im sozialen Zusammenleben.
Der Körper als politisch-inszenatorische Leinwand ist seit den frühen 1980er Jahren für viele Künstler*innen ein zentrales Thema: als Ausdruck wirtschaftlicher, kultureller und sozialer Ungleichheiten, als ‚Waffe‘ gegen gesellschaftliche Zwänge und als Zeichen für die Freiheit sexueller oder geschlechtlicher Orientierungen. Fotografien werden zu einem performativen Ort interner und externer Auseinandersetzungen um das Körperliche, für indigene und afro-diasporische Diskurse, für Integrität, Transformation und Repräsentation.
Nontsikelelo Velekos Protagonist*innen nutzen Mode, um soziale und kulturelle Identität in öffentlichen Räumen selbstsicher auszudrücken. Sabelo Mlangeni zeichnet mit „Country Girls“ (2009) ein intimes und selten sichtbares Porträt queeren Lebens in den ländlichen Regionen Südafrikas. Die porträtierte Dragqueen „Miss D’vine“ (2007) in Zanele Muholis Fotografien leistet durch ihre bloße Existenz Widerstand und insistiert darauf, vorherrschende Lebens- und Geschlechterkonzepte zu überwinden.
Mwangi Hutter nutzen ihren eigenen Körper als Ausdrucksmittel für kollektive Existenz und zur Befragung kultureller Zugehörigkeit, Tradition und Geschichte, während Kudzanai Chiurais „The Black President“ (2008) Konzepte von Männlichkeit und Macht mit sorgfältig konstruierter Ikonografie hinterfragt. Die Selbstporträts „African Spirits“ (2008) von Samuel Fosso zeigen den Künstler in der Rolle von Ikonen der panafrikanischen Befreiungs- und US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Diese theatralischen Darstellungen ehren nicht nur Persönlichkeiten, die für postkoloniale Unabhängigkeit und Menschenrechte kämpften, sondern zeigen auch, wie ihre Selbstdarstellung in den Medien dazu beitrug, politische Ideale zu formen. S. J. Moodleys (1922-87) Studioporträts aus den 190er Jahren zeigen ein reiches Spektrum an Menschen, die vom Apartheidregime als ‚afrikanisch‘, ‚indisch‘ oder ‚coloured‘ klassifiziert wurden.
Rotimi Fani-Kayode verflicht Spiritualität und erotische Intimität, um in einen spirituellen Dialog mit seinen Yoruba-Vorfahren zu treten und queere Sexualität im Spiegel der eigenen Identität darzustellen.
Künstler Samuel Fosso spricht über seine Werke in der Ausstellung
In den ausgewählten Fotografien steht der Lebensraum des Menschen im Fokus: Der bebaute Raum, die verdichteten Strukturen lebendiger Großstädte oder die weite, leere Landschaft. Die Werke Sammy Baloji, David Goldblatt, Jo Ractliffe, Guy Tillim, Em’kal Eyongakpa und Theo Eshetu zeigen die Auswirkungen von Ideologie und Politik auf Landschaft und Architektur in Kongo, Südafrika, Angola, Kamerun und Äthiopien.
Sammy Baloji
Architekturen werden als Symbole und Agenten sozialer Ordnung, öffentliche Plätze als utopische oder gescheiterte Denkräume der Freiheit und Selbstverwirklichung ins Bild gesetzt. Zugleich hinterlassen geopolitische Verschiebungen, die Unterwerfung lokaler Territorien durch Krieg und Gewalt ihre (un)sichtbaren Spuren.
Die Fotografien agieren aber auch als Zeugnisse von Erinnerungen, als Spiegelbilder eingeschriebener Ideologien und als Bühne für die Darstellung von individuellen und kollektiven Geschichten. Eshetus Arbeiten verbinden Spiritualität und Ritual mit christlicher Religionslehre und dem Weltlichen.
Die Fotografien werden zu psychologischen Studien von sozialen Zwischenräumen, hybriden Identitäten, geopolitischen Verschiebungen und (post)kolonialen Auseinandersetzungen und zeugen von tiefer Spiritualität.
Die Fotografien agieren als Zeugnisse von Erinnerungen, als Spiegelbilder eingeschriebener Ideologien und als Bühne für die Darstellung von individuellen und kollektiven Geschichten. Sie zeigen die Auswirkungen von Krieg, Unterdrückung und Kolonialisierung auf die gegenwärtigen Landschaften Südafrikas, Angolas und Kameruns.
Jo Ractliffes „Diana Archive“ (1990–94) besteht aus Momentaufnahmen, die sie unmittelbar vor dem Ende der Apartheid mit einer Plastikkamera zwischen Johannesburg und Kapstadt fotografierte: Flüchtige Spuren von Menschen während einer Zeit des Wandels sind in fragmentarischen Bildern mit fehlender Klarheit zugleich sichtbar und unsichtbar. Mit „As Terras do Fim do Mundo“ (2009–10) fotografierte die Künstlerin die vom Bürgerkrieg gezeichneten Landschaften Angolas und untersuchte „wie sich vergangene Traumata in der Landschaft der Gegenwart manifestieren, sowohl forensisch als auch symbolisch (…) – in einem gegenwärtigen Raum, der jedoch die Spuren seiner Geschichte trägt.“ (Jo Ractliffe)
Auch David Goldblatt dokumentierte die komplexen Bedeutungsebenen von südafrikanischen Lebensräumen – geprägt von der Ideologie der Apartheid und ihren rassistisch motivierten Vertreibungen und Zerstörungen, deren Folgen sich heute in der Landschaft und Architektur Südafrikas spiegeln.
Mit „Mémoire“ (2006) schafft Sammy Baloji Collagen aus historischen und zeitgenössischen Bildern, in denen Figuren aus der Vergangenheit in gegenwärtigen Landschaftspanoramen erscheinen und die kolonialbedingte Ausbeutung mit postindustrieller Ödnis von heute zusammenfällt. Ebenfalls in der Demokratischen Republik Kongo dokumentiert Guy Tillim mit „Avenue Patrice Lumumba“ (2008) die Architektur, die während der Entkolonialisierung in den 1960er und 1970er Jahren Gestalt annahm und heute eine Geschichte zerbrochener post- kolonialer Träume darstellt. Mit der Serie „Jo’burg“ (2003–04) ergründet der Künstler in seiner Geburtsstadt die sozialen und urbanen Veränderungen eines ‚neuen Südafrikas‘.
Em’kal Eyongakpas „Ketoya Speaks“ (2016) thematisiert die deutsche Kolonialisierung Kameruns (1884–1916) durch Bilder diffuser Schatten und fragmenthafter Überlagerungen, um an Verbrechen und Krieg zu erinnern, visualisiert aber auch den Glauben des Künstlers an die Existenz von spirituellen Sphären darzustellen. Theo Eshetus Arbeiten geben einen kaleidoskopischen Einblick in die kollektive Spiritualität von Pilger*innen, die zum Berg Zuqualla in Äthiopen wandern, der seit Jahrhunderten von den koptischen Christen als heilige Stätte verehrt wird. Die kulturübergreifende Bedeutung und profunde Spiritualität spiegeln sich in Eshetus visueller Aufbereitung wider, in der sich materielle und immaterielle Welten in traditionellen Zeremonien und Ritualen vereinen.
Künstler Theo Eshetu spricht über seine Werke in der Ausstellung
Theo Eshetu
Vor dem Horizont post- und dekolonialer Gegenwartsdiskurse ermöglichen die fotografischen Werke von Délio Jasse, Lebohang Kganye, Mame-Diarra Niang und Dawit L. Petros einen sinnlich-poetischen Zugang zu einem individuellen und transnationalen Blick auf das Selbst.
Sie reflektieren die Auswirkungen sozio-kultureller, ökonomischer und politischer Veränderungen und setzen sich mit dem Einfluss kapitalistischer Systeme auf den urbanen Raum, mit kollektiven Erinnerungskulturen und Migrationsbewegungen auseinander. Mit digitalen Techniken erweitern sie das Feld des Fotografischen, um die Auswirkungen sozio-kultureller, ökonomischer und politischer Veränderungen in einer globalisierten Welt zu reflektieren.
Die Werke einer um 1980 geborenen Generation demonstrieren einen zeitgenössischen Paradigmenwechsel. Sie geben Einblick in die gegenwärtigen Möglichkeiten und komplexen thematischen Verdichtungen einer vielstimmigen, subjektiven und engagierten Fotografie aus afro-diasporischer Perspektive.
Die Werke der jüngeren Generation demonstrieren einen zeitgenössischen Paradigmenwechsel. Sie erweitern die Fotografie mit digitalen Techniken und im Licht post- und dekolonialer Gegenwartsdiskurse.
„Terreno Ocupado“ (2014) zeigt Délio Jasses Geburtsstadt Luanda in analogen Cyanotypie-Fotografien mit sich überschneidenden Bildern von Menschen, Gegenständen und Straßen als Zustand des permanenten Wandels der Stadt.
Für ihre Arbeit „Ke Lefa Laka: Her-Story“ (2013) überlagert Lebohang Kganye Bilder aus Familienalben mit Selbstporträts in der Kleidung ihrer Mutter; die daraus resultierenden, geschichteten Fotografien zeigen die beiden Frauen – durch Zeit und Umstände getrennt – im Bild vereint.
Mame-Diarra Niangs Arbeiten untersuchen den Bild- ausschnitt als fundamentale Grenze und ergründen die Möglichkeiten der fotografischen Repräsentation durch dekontextualisierte, aus Fragmenten bestehenden Landschaften, die dazu dienen, Identität als territorialen Raum zu beanspruchen. Dawit L. Petros‘ „The Stranger’s Notebook“ (2016) ist das Ergebnis einer dreizehnmonatigen Exkursion – von Nigeria nach Senegal, Mauretanien nach Spanien, Frankreich nach Italien – um die gegenwärtige soziale Erfahrung mit vergangenen Erzählungen über Mobilität und Migration zu vergleichen.
Dawit L. Petros
Im Dialog von Seydou Keïta (1923–2001) und August Sander (1876–1964) werden die soziokulturellen Unterschiede und Ähnlichkeiten von zwei gegensätzlichen Momenten des 20. Jahrhunderts deutlich. Zeitgleich weisen die Posen und Gesten darauf hin, dass die Porträtierten sowohl Spiegel als auch Motor von kollektiven Geschichtsschreibungen sind.
1950er
In seinem 1948 gegründeten Fotostudio hat Seydou Keïta einen Querschnitt der Gesellschaft Bamakos ab- gebildet, wenige Jahre bevor Mali die Unabhängigkeit erlangte. Seine formalen, kunstvollen Kompositionen prägten das neue Bild des (post)kolonialen Afrikas und zeugen von der wachsenden Bedeutung der Fotografie als Medium einer emanzipierten Selbstdarstellung: Von Keïta fotografiert zu werden, bedeutete ‚Bamakois‘ zu sein – als schön und kosmopolitisch angesehen zu werden.
1920er
Das fotografische Bild wurde zum Werkzeug der Repräsentation des Selbst, ähnlich wie in August Sanders umfassender Kulturstudie „Antlitz der Zeit“, die – fotografiert während der Weimarer Republik – gleichzeitig die Individualität der Porträtierten und die Merkmale von gesellschaftlichen Milieus, Berufen, Geschlechtern und Generationen herausstellt. Die spätere Gliederung seines Hauptwerks „Menschen des 20. Jahrhunderts“ deutet sich hier bereits an.
Kurator Brian Wallis spricht über Gebrauchs- und Alltagsfotografien in The Walther Collection
Tamar Garb, Professorin für Kunstgeschichte am University College London, spricht über ausgewählte historische Fotografien in The Walther Collection
Analog zu den kulturübergreifenden Prinzipien, die August Sander und Seydou Keïta verbinden, findet in den Experimenten der drei gegenübergestellten Positionen eine diskursive Reflexion über konzeptionelle Ansätze statt, die von typologischen, taxonomischen und seriellen Arbeitsweisen geprägt sind.
1960er
In Bamako, Mali, wurde Malick Sidibé (1935/36-2016) Anfang der 1960er Jahre zum Chronisten einer Gesellschaft am Beginn ihrer Unabhängigkeit: In den Clubs oder am Strand des Niger fotografierte er die tanzende und feiernde Jugend, in seinem Studio porträtierte er selbstbewusste und kosmopolitische Bürger*innen. In seiner Serie „Vues de Dos“ wenden sich die Porträtierten von der Kamera ab oder blicken zurück und treten mit den Betrachter*innen in Kontakt, ohne ihre eigene Handlungsmacht und Unabhängigkeit einzugrenzen.
1970er
Im Nigeria der 1970er Jahre schuf J.D. 'Okhai Ojeikere (1930–2014) ein historisches Archiv, in dem sich Traditionen und alltägliche Praxis berühren: Mehr als 1000 Fotografien sind die Grundlage seiner typologischen Studie über das Kunsthandwerk des Haarflechtens, das in den Jahren nach der Unabhängigkeit als Symbol kollektiver Erinnerungskultur und nationaler Identität neue Bedeutung gewann.
Etwa zeitgleich begannen Bernd (1931–2007) und Hilla Becher (1934–2015) veraltete Industriebauten als Symbol einer postindustriellen Landschaft fotografisch zu dokumentieren: Fördertürme, Gasbehälter und Wasserspeicher in Deutschland wurden nach Typen geordnet und zu Rastern zusammengestellt, um den Blick auf die Form als Reflexion ihrer Funktion zu schärfen und die Vielfalt ihrer funktions-, orts- und materialspezifischen Details herauszuarbeiten.
Ko-Kuratorin Maria Müller-Schareck spricht über die historischen Zeitkapseln in der Ausstellung
Die Ausstellung „Dialoge im Wandel. Fotografien aus The Walther Collection“ wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Team der The Walther Collection konzipiert und kuratorisch von Renée Mussai begleitet. Ohne das sensible Feingefühl, das profunde Wissen und das internationale Netzwerk des Stiftungsgründers Artur Walther wäre eine Ausstellung mit dieser historischen Verdichtung und zeitgenössischen Relevanz nicht möglich gewesen.
Artur Walther, Sammler und Gründer der The Walther Collection, spricht über afrikanische Fotografie