2.9.2023 -
14.1.2024
Soutine
Besuchen Sie die Ausstellung im K20 in Düsseldorf bis zum 14.1.2024.
Nutzen Sie dort exklusiv den Audio Guide gesprochen von André Kaczmarczyk.
Maler und Legende
Chaïm Soutine ist einer der großen Maler der klassischen Moderne. Seine Gemälde zeigen Landschaften, Gegenstände und Menschen seiner Umgebung. Mit Formverzerrungen, Übersteigerungen, dynamischen Konturlinien, heftigen Pinselzügen und herausfordernden Farbkontrasten ist seinen Werken ein expressiver Charakter eingeschrieben.
Die Oberflächen seiner Gemälde sind dichte Farbverwebungen. Sie verdanken sich einer Malkultur, die an den berühmtesten Werken der Kunstgeschichte geschult ist, die die Konturen der dargestellten Objekte und Menschen aus einem leidenschaftlichen Malprozess gewinnt und die Flächen im Neben- und Übereinander heftiger Pinselstriche entstehen lässt.
Die besondere sinnliche Qualität seiner Gemälde macht Chaїm Soutine (1893 – 1943) zu einem gefeierten Vertreter einer expressiven Malerei und einem bis heute verehrten Vorbild von Maler*innen.
Soutine ist ein junger Maler aus armen Verhältnissen. Er geht 1913 nach Paris, um die künstlerische Weiterentwicklung und den wirtschaftlichen Erfolg zu suchen - und zu finden.
Aufgewachsen ist er in einer kleinen Stadt bei Minsk im heutigen Belarus. Nach ersten Studien in Minsk und Vilnius beschließt er, nach Paris zu reisen. Es sind zweitausend Kilometer, die er in einer mehrtägigen Eisenbahnfahrt vierter Klasse zurücklegt. Er kommt bei einem Studienfreund, dem Maler Pinchus Krémègne, unter. Eine Weile wohnt er bei ihm in La Ruche (=Bienenstock). Diese Künstlerkolonie mit etwa 100 Ateliers ohne jeden Komfort in der Nähe der Schlachthöfe zieht viele Zugewanderte an, die keine finanzielle Sicherheit haben. Hier trifft Soutine auf eine internationale Künstler*innenschaft. In La Ruche leben zeitweise auch Amedeo Modigliani, Marc Chagall, Jacques Lipchitz, Ossip Zadkine oder Fernand Léger.
Weggefährten
Marc Chagall
Amedeo Modigliani
Juan Gris
In den Kriegsjahren und danach dominiert die Vorstellung von den armen Künstler*innen und Intellektuellen. Soutine malt viel und wartet auf den Erfolg. Sein Freund Amedeo Modigliani überzeugt seinen Galeristen Léopold Zborowski 1916, Soutine ebenfalls unter Vertrag zu nehmen. Der Galerist zahlt Soutine regelmäßig eine minimale Unterstützung und ermöglicht ihm Malaufenthalte in Céret und Cagnes-sur-Mer. Das Werk Le Pâtissier (Der Konditor), das 1919 in Céret entstanden ist, wird zu einem Schlüsselwerk in Soutines Karriere.
Im Winter 1922/23 ist der amerikanische Kunstsammler und Museumsgründer Albert C. Barnes in Paris. Er ist auf der Suche nach Gemälden für seine Sammlung europäischer impressionistischer Malerei. Ob er das Porträt des Konditors zufällig in einem Café in Montparnasse entdeckt hat oder ob er von seinem Agenten, dem Kunsthändler Paul Guillaume, darauf aufmerksam gemacht worden ist, ist nicht mehr zu rekonstruieren. Jedenfalls kauft Barnes dieses Gemälde und 51 weitere Werke des Künstlers in der Galerie von Léopold Zborowski. Paul Guillaume sorgt mit seiner Zeitschrift Les Arts à Paris dafür, dass sich die Nachricht rasch verbreitet. In der Folge nahmen die Verkäufe zu und die Preise für Soutines Gemälde steigen. Paris erlebt erneut die Geschichte von der plötzlichen Entdeckung und dem schnellen Reichtum eines Künstlers.
Der fast dreißigjährige Soutine kann seinen Lebensstil endlich deutlich verändern. Allerdings hat er damit nicht ausgesorgt. Vor allem in der Finanzkrise der 1930er Jahre und während des Zweiten Weltkriegs braucht Soutine wieder die Unterstützung von Mäzen*innen wie Madeleine und Marcellin Castaing und von Freund*innen.
Die große Anerkennung für seine künstlerische Arbeit und die finanzielle Unabhängigkeit, die mit dem Ankauf durch Albert Barnes verbunden sind, tun dem Künstler sichtlich gut. Allerdings wird ihm der Erfolg bald geneidet.
Einige etablierte französische Künstler*innen fürchten um den eigenen Erfolg und Einfluss und wenden sich gegen die vielen zugewanderten Künstler*innen, die bekannt werden und die örtlichen Institutionen nutzen. Die Presse unterstützt ihre Argumentation, in die sich nationalistische und antisemitische Töne mischen.
Als Soutine 1913 nach Paris kommt, trifft er hier auf viele jüdische Künstler*innen aus der ganzen Welt – auch aus Osteuropa. Marc Chagall, Henri Epstein, Léon Indenbaum, Michel Kikoïne, Moise Kisling, Pinchus Krémègne, Jacques Lipchitz, Jules Pascin, Ossip Zadkine und viele andere leben und arbeiten hier. Zwischen 1880 und 1925 haben sich ca. 100.000 Juden aus Russland in Frankreich niedergelassen. Ein verbreiteter Antisemitismus und die Diskriminierung im Zarenreich gehören zu den Gründen. Frankreich genoss bei den Jüdinnen und Juden seit der französischen Revolution den Ruf eines gastfreundlichen Landes, das ihnen Zugang zu allen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens ermöglichte. Für Soutine ist Paris mit Vorstellungen von Emanzipation, künstlerischer Entwicklung und Inspiration verbunden. Dies scheint sich auch zu bewahrheiten, bis sein Erfolg Neidgefühle auslöst.
Der Maler Chaїm Soutine wird schon zu Lebzeiten von seinen Malerkolleg*innen sehr geschätzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Soutines Werk in Europa wie auch in den USA für die breite Öffentlichkeit zugänglich - sowohl in Gruppen - wie in Einzelausstellungen. Aber es ist vor allem der Retrospektive im Museum of Modern Art in New York 1950 zu verdanken, dass eine neue Generation von Künstler*innen Soutines Werk entdeckt und ihn in der Folge als Visionär und Vorbild betrachtet.
Mit ihren besonderen Motiven können seine Gemälde existenzielle Fragen aufrufen und das Einfühlungsvermögen des Malers belegen. Künstler*innen, die in den 1950er Jahren eine aufmerksame Betrachtung der Wirklichkeit fordern und einen neuen Realismus suchen, sehen sich durch Soutines Werke ermutigt. Alice Neel bewundert seine Einfühlung in die dargestellten Typen und verfolgt in ihrer Malerei ganz ähnliche Ziele.
Francis Bacon inszeniert in seinen großen Kompositionen menschliche Figuren in Gegenüberstellungen mit geschlachteten Rindern in Erinnerung an Werke von Rembrandt van Rijn und Chaїm Soutine. So zeigt er kraftvolle menschliche Körper und verbindet sie mit dem Drama der gehäuteten Tiere, das mit dem Motiv der geöffneten Tierkörper und heftigen Pinselspuren assoziierbar wird.
Willem de Kooning erkennt in Soutines Farbauftrag seine eigene Malpraxis wieder und fühlt sich von der körperlichen Beziehung seines Malerkollegen zu Motiv, Leinwand und Farben angesprochen.
Soutines dynamische Konturen sind das Ergebnis eines leidenschaftlichen Malprozesses und werden als Aufzeichnung der inneren und äußeren Bewegung des Malers gelesen.
Sie beschäftigen und ermutigen verschiedene Generationen von Künstler*innen, die dem Informel und dem abstrakten Expressionismus zugerechnet werden. Sie betrachten die abstrakten Farb- und Pinselspuren als seismographische Aufzeichnung der reinen Bewegung durch die Hände der Künstler*innen.
Die Ausstellung
Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen versammelt rund 60 Werke Chaїm Soutines zu einem beeindruckenden Überblick über seine künstlerische Entwicklung. Sie beleuchtet die Ausformung seiner expressiven Bildsprache in den frühen Werken und legt den Schwerpunkt auf Bildserien, die zwischen 1918 und 1928 – in der Zeit des Aufbruchs nach dem Ersten Weltkrieg - entstanden sind.
In der Gesamtschau spiegeln die Motive Elend und Triumph eines Malers, der unter den historischen und politischen Verhältnissen und Ereignissen leidet. Die Motive seiner Malerei sind Sinnbilder der Existenz. Die Malweise seiner Bilder zeugt von der Intensität der Auseinandersetzung mit den Menschen und Dingen seiner Umgebung. In ihr zeigen sich die Möglichkeiten und der ganze Reichtum von Malerei. Die Maloberfläche eines jeden Gemäldes von Chaїm Soutine ist ein Drama und ein Fest.
Über den Sprecher
André Kaczmarczyk (*1986) begeistert als Schauspieler und Regisseur sowohl Theater- als auch Filmzuschauer*innen und verleiht nun dem Audio Guide der Chaïm Soutine Ausstellung in K20 seine Stimme. Er studierte an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und ist seit 2016 Ensemblemitglied des Düsseldorfer Schauspielhauses.
Seit 2021 ermittelt er als erster genderfluider Kriminalhauptkommissar, Vincent Ross, im "Polizeiruf 110".
In deutscher, englischer und einfacher Sprache (D) hörbar.