Joan Miró (1893–1983) zählt mit seinen rätselhaften Zeichen, tanzenden Himmelskörpern und verspielten Figuren zu den erfindungsreichsten und beliebtesten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Bei aller Unbeschwertheit verbirgt sich hinter Mirós Bildwelten jedoch eine intensive Reflektion über die Möglichkeiten der Malerei. Nur wenig bekannt sind Mirós lebenslanges Interesse an Literatur und Poesie sowie seine Freundschaften zu bedeutenden Schriftstellern seiner Zeit.
Die zusammen mit dem Bucerius Kunst Forum in Hamburg konzipierte Ausstellung beleuchtet erstmals umfassend Mirós Verhältnis zur Dichtung. Damit berührt sie Fragen nach der Beziehung von Wort und Bild und der Verwendung von Schrift in der Kunst der Klassischen Moderne. Etwa 110 Gemälde, Zeichnungen und Malerbücher aus allen Schaffensphasen werden durch zahlreiche Objekte aus Mirós privater Bibliothek ergänzt, die als Leseraum rekonstruiert wird. Renommierte öffentliche und private Sammlungen aus Europa und den USA unterstützen die Ausstellung mit großzügigen Leihgaben.
Miró war ein passionierter Leser, der sowohl den Klassikern der Weltliteratur, den symbolistischen Dichtern des späten 19. Jahrhunderts wie auch den jüngsten avantgardistischen Positionen zugeneigt war. Schon während seiner ersten Jahre als junger Maler in seiner Geburtsstadt Barcelona beflügelte die Lektüre seine Fantasie. Mehrfach zitierte er in seinen Bildern konkrete Titel – so von Büchern Johann Wolfgang von Goethes oder Jean Cocteaus – und integrierte das Titelblatt der 1917 von Pierre Reverdy und Guillaume Apollinaire gegründeten Zeitschrift Nord-Sud in ein gleichnamiges Gemälde. Mit seinem Umzug nach Paris fand der 27-jährige Miró Anfang der 1920er-Jahre Aufnahme in die vom Dadaismus geprägten literarischen Zirkel. Die Dichter arbeiteten an einer Befreiung der Sprache aus den Fesseln von Syntax, Klang und Sinn. Der Angriff auf den Rationalismus war ihre Provokation. Einige der bedeutendsten Literaten des 20. Jahrhunderts, wie Tristan Tzara, Paul Éluard, Max Jacob, Robert Desnos oder André Breton, wurden zu Mirós Freunden.
Stärker als der Kontakt zu anderen Malern in Paris beeinflusste ihn dieser Austausch mit den Dichtern. Aus ihren Ideen schöpfte er die Inspiration für sein malerisches Vorgehen, das ihm 1923 zum künstlerischen Durchbruch verhalf. Die Darstellung der Realität wich dem Fantastischen. Ab Mitte der 1920er Jahre gingen in seiner Serie von Bild-Gedichten Bilder und Worte vieldeutige Verbindungen ein. Miró verstand sich als "Malerdichter", der keinerlei Unterschied zwischen den Künsten machte. Obwohl er sich dem Surrealismus verbunden fühlte, bewahrte er doch stets seine künstlerische Unabhängigkeit. Mirós Literaturrezeption war keineswegs einseitig. So wie er sich von der Literatur inspirieren ließ, gaben seine Bilder den Schriftstellern kreative Impulse. Ernest Hemingway gehörte zu Mirós ersten Bewunderern und Käufern. Michel Leiris veröffentlichte 1929 in der Zeitschrift Documents einen Text über Mirós Malerei und bezog diese in seine philosophischen Überlegungen zur Leere ein. Dichterfreunde gaben Mirós Werken ihre Titel. In Gemeinschaftsprojekten entstanden mehr als 250 aufwendig gestaltete Malerbücher, in denen sich Text und Bild gleichberechtigt gegenüber stehen.
Im direkten künstlerischen Austausch mit den Dichtern und Verlegern schuf Miró einige der schönsten Malerbücher des 20. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte seines Lebens entwickelten sich Mirós Motive zunehmend zum Zeichen- und Schrifthaften. Die hieroglyphischen Figuren sind zwar nie genau deutbar, doch entwickeln sie gerade dadurch ein universelles Potential. Zugleich verlieh Miró seiner Opposition zum Faschismus in Europa – insbesondere zum Regime Francisco Francos in Spanien – in vielen Werken kritisch Ausdruck. Als überzeugter Katalane trat er für die Bewahrung seiner Kultur ein und solidarisierte sich mit den Studentenbewegungen von 1968. Auf Mallorca, wo sich der Künstler 1956 niedergelassen hatte, schuf Miró ein Spätwerk voller Impulsivität und Aggression. Chiffrenhafte Buchstaben und Ziffern gleichen den Parolen auf den Bannern der Demonstranten, fratzenhafte Figuren erheben ihre Arme im Protest. Beeinflusst von seinen Reisen nach Japan und dem Kontakt mit den Abstrakten Expressionisten in den USA, integrierte er in seine Malerei sowohl die leidenschaftliche Geste und die Kalligrafie als auch die vom Zen inspirierte Konzentration auf das Wesentliche.
Die Ausstellung „Miró. Malerei als Poesie“ erlaubt einen neuen Blick auf Joan Mirós Oeuvre. Der vielfältige Einfluss der Dichtung hält überraschende Erkenntnisse über den – neben Picasso – wohl bekanntesten Künstler Spaniens bereit.